21. December 2011

The Syrens Of Spring: How Weary I am — 1995-2011

Filed under: Kunst,Musik — zettberlin @ 18:40

goodbadweary
Irgendwann im Jahre 1995(ich war gerade nach Berlin gezogen), hatte ich einen Traum. Mir träumte, dass ich bei einer Fahrt mit der Straßenbahn eingeschlafen war und dass ich an einer Endhaltestelle am Rande der Stadt vom Fahrer der Bahn geweckt wurde. Ganz genau ist mir der Traum nicht mehr im Gedächtnis. Ich hatte ihn auf einem HP-Vectra-PC aufgeschrieben, der Vectra hatte als Speichergerät ein 5,25″-Diskettenlaufwerk an Bord. Da ich versäumt habe, die Datei auf einen moderneren Datenträger zu kopieren, kann ich heute nicht mehr nachlesen, was denn genau in dem Traum geschah.

Die Situation ist mir allerdings noch lebhaft in Erinnerung, weil sie zu den wiederkehrenden Motiven meiner persönlichen Erfahrungswelt gehört: vom Weg abgekommen, abgelöst von der vertrauten Umgebung, während die Zeit läuft. Und in diese Situation gerate ich, wenn ich mich in einem Fahrzeug bewege und einschlafe.

Ich stieg aus der Bahn und tat das, was der Instinkt jedem verirrten Wesen eingibt: Steige auf eine Anhöhe verschaffe Dir einen Überblick über diesen Teil der Welt. Mit etwas Glück könnte ich von einem Aussichtspunkt vertraute Landmarken erkennen. Dann wüsste ich zumindest, in welche Himmelsrichtung ich mich auf den Heimweg machen könnte. Der Schlaf blieb mein Begleiter in diesem Traum. Als ich an einer etwa 20 Meter hohen Stelle am Hang eines Hügels eine Bank erreichte, setzte ich mich und schlief wieder ein.

Ich erwachte von einem Ton. Etwa das Pfeifen einer Dampflok oder eine kleine Schiffssirene. Lange geschlafen hatte ich nicht, denn als ich an der Endhaltestelle ausgestiegen war, hatte mich schon eine abendliche Stimmung empfangen. Jetzt blickte ich weit über die Stadt nach Westen und die Bäume am Wegrand, die Endhaltestelle, die Dächer der Vorstadt, die Innenstadt und der Horizont waren mit dunklem Gold eines apokalyptischen Sonnenuntergangs übergossen. Die Schienen der Bahn blitzten in diesem feurigen Glanz, der nichts beleuchtete sondern durch seine Leuchtkraft nur die aus der Nacht wachsenden Schatten dunkler erscheinen ließ. Und ich dachte daran, dass es heller Mittag gewesen war, als ich noch in der Innenstadt mit der Strassenbahn losgefahren war. Und dass ich zu irgendeinem wichtigen Termin am Nachmittag, so gegen 15:00 unterwegs gewesen war.

Alles was ich jetzt noch wollte, war von diesem verlassenen Ort weg und zurück in die Geborgenheit der großen Stadt zu kommen.

Etwa ein Jahr später spielte ich ein einfaches Gitarrenriff und suchte nach einem akzeptablen Text, den ich dazu singen könnte. Mir kam der Traum in den Sinn und so schrieb ich ein paar Zeilen passend zum Riff, die ihren Inhalt aus einer Beschreibung der Traumszene liehen:

I had climbed a big mountain
atop the town of the sheep

Dass der Berg “big” war und die Stadt “den Schafen” gehörte, hat mehr mit der gewünschten Melodie und meinem damaligen Denken als mit reiner Inspiration zu tun. Die folgenden Zeilen kamen schnell und ich musste nicht viel an ihnen herumbasteln:

as I was startling whith a whistle blowing
must have been fallen asleep.

so I opened my eyes,
and I wiped them well
and in the evening sun
the place looked like hell.

Die Erzählung zu Ende zu bringen, hat mich noch viele Tage und am Ende Wochen gekostet. Denn an dieser Stelle war mein Traum abgebrochen und es macht viel Arbeit, wenn man künstlich etwas schaffen muss, das neben einem Traumgesicht bestehen kann.

down the slope is a station
tells a dull neon-light
could make it home by the city-railway
before the fall of the night

so I tried to get up
to return to the town
but my feet felt like lead
so I dropped to the ground

Hier war mein spärlicher Born der Dichtkunst ausgeschöpft. Mir fehlt die Kreativität, lange, lyrische Texte zu verfassen. Dafür habe ich einen gut ausgeprägten Geschmack. Alles, was nicht mindestens originell und authentisch ist, alles, was nicht irgendetwas ungesagtes zu sagen hat, lasse ich lieber. Und wenn ich einen anderen finde, der etwas passendes gesagt hat, verwende ich das in Dankbarkeit als Zitat:

how weary I am of my good and bad,
for it does not make me fervour and fuel
the just however — are fervour and fuel

Friedrich Nietzsche/Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen

Also auch für mich. Die englische Übersetzung von Thomas Common, die man bei Project Gutenberg findet, gefällt mir übrigens in jeder Hinsicht besser als das deutsche Original. Obwohl sie wohl zurecht als nicht sehr exakt gilt. Es ist ein Text. Von einem Dichter erdacht und von einem anderen Dichter in einer anderen Sprache neu formuliert. Die Gedanken scheinen mir tief und es ist mir immer wieder ein Vergnügen, ihnen zu folgen. Und ihre englische Form klingt genau so, wie ich es für mein Stück gebraucht habe.

Aber ursprünglich, 1996 gab es diese Zeilen noch nicht. Ich hatte das Stück auf Kassette aufgenommen. Ich gefiel mir damals darin, Computer für gänzlich ungeeignet für Tonaufnahmen zu halten. Mein Snobismus in Sachen digitaler Tontechnik führte dazu, dass ich bis Ende der 1990er Jahre mit kaum tauglichen Kassettendecks und Videorecordertonspuren herumeierte, statt mit einem PC viel mehr zu erreichen. Denn genug Geld für wirklich studiotaugliche Analogtechnik hatte ich nicht und so blieben meine Aufnahmen krude Experimente.

1999 beschloss ich endlich, mit dem Unsinn aufzuhören. Ich verkaufte meinen 386er Büro-PC und viele andere meiner Besitztümer und schaffte einen AMD K6 mit 600 MHz Taktfrequenz und 64MB RAM an, den ich mit Windows 98 und parallel mit Suse 6.4 bestückte. Mit dem Linux-System kam ich nicht sehr gut zurecht aber für Windows gab es diverse interessante Audio-Software. Ich nahm einige Stücke mit Samplitude auf, von denen ich heute noch Demo-Mixe besitze.

Die Traumgeschichte war nicht dabei und seltsamerweise spielte ich das Stück auch nicht mit meiner damaligen Band. Die hieß auch schon the S.O.S., schrieb sich aber the Symposion Of Sickness. Bis 1999 haben wir jede Woche geprobt, einige Konzerte gespielt und ein Album aufgenommen. Letzteres ganz nach meinem Geschmack auf einer vollanalogen 16-Spur-Bandmaschine.

Schon bald nach den Aufnahmen verlief sich die Band im Sande und ich stieg erst ins Internet und dann mit Suse 7.3 endlich richtig in Linux ein. Ich verbrachte ganze Tage und Nächte vor dem Rechner, lernte, Software aus den Quellcodes zu bauen und einen System für Echtzeitanwendungen einzurichten.

Erst 2004 — fast 10 Jahre nach meinem Traumerlebnis, begann ich das alte Kassettendemo auf dem Computer, mit Linux und Ardour1 neu aufzunehmen. Das erste, was ich der ursprünglichen Skizze hinzufügte, waren die Zeilen von Nietzsche am Ende des ersten Teils. Einige Wochen arbeitete ich mit einem alten Freund aus meiner Zeit in Hoyerswerda an dem Stück. Henry ist ein exzellenter Gitarrist und einer der wenigen vollwertigen Musiker, die ich kenne. Er änderte die Tonart und fügte einige neue Elemente wie mehrstimmige Slidegitarren ein. Allerdings war ich mit meinem Gesang in der neuen Tonart nicht sehr zufrieden und der erste Teil wirkte nun noch mehr wie ein erster Teil eines wenigstens zweiteiligen Stücks. Wir trafen uns etwa 5 mal und arbeiteten an die 20 Stunden an How weary I am. Ich fügte verschiedene Varianten von zweiten Teilen an, die alle nicht wirklich gut funktionierten. Meine Vision war ein schleppender, harter Schlagzeuggroove in dem mehrere absteigende Leadgitarrenlinien miteinander korrespondieren sollten. Vorher sollte eine Überleitung Spannung aufbauen. Irgendwann hatte ich ein Stück Überleitung. Mit Alsa Modular Synth gespielte Solostreicher-Stimmen klangen so ähnlich wie die Feedbacks im Zwischenspiel von “Fools” von Deep Purple. Diese Passage kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Danach nahm ich mehrere Varianten von absteigenden Gitarrenlinen auf, die alle nichts taugten. Das Stück begann einfach nicht zu leben.

Ich ließ es sein aber zwei Jahre später hatte ich wieder eine Band und eines Abends spielte ich den Jungs das Stück vor — also den fertigen ersten Teil in der ursprünglichen Tonart. Die Band hatte nie einen richtigen Namen aber wir hatten unseren Spass. Eines Abends nahm ich einen MSI-Laptop mit Studio64/Debian eine Presonus Firebox und ein paar Mikrofone in den Proberaum mit. Unser Gitarrist Michael hatte einen ziemlich brillianten Teil 2 entwickelt und wir spielten also das ganze Stück, das nun insgesamt auf 10 Minuten Spielzeit kam. Weil das Presonus-Interface nur 4 diskrete analoge Eingänge bietet, nahmen wir erst irgendwie alles auf mit je einem Mikro für Michaels und meine Gitarre und irgendwie auch meine Stimme und 2 Overheads für das Schlagzeug. Danach habe wir diesen Pilottrack noch mal durchlaufen lassen und dazu hat dann Fred, unser Zahnarzt und Schlagzeuger, das Stück noch mal mit Extramikros für Bassdrum und Snare plus Overheads gespielt.

Leider war der Teil mit den Gitarren nicht zu gebrauchen. Es klang unerträglich schlecht und vor allem waren diverse Lautstärkeschwankungen und Spielfehler zu hören. Den Aufwand, die Aufnahme zu wiederholen, brachten wir nicht zustande. Aber 2007 nahm ich mir das Ardour-Projekt mit den Aufnahmen meiner inzwischen wieder eingestellten Band noch einmal vor und fand, dass der Schlagzeugpart durchaus einen gewissen Charme hatte.

Also nahm ich Gesang und zwei Gitarrenspuren dazu auf. Die Gitarren spielte ich mit AMSGuitrack: meinem kleinen Patch für Alsa Modular Synth. In dem sind die Gitarreneffektmodule der C*-Sammlung von Tim Goetze und David Yeh zu einem virtuellen Gitarrenverstärker zusammengeschaltet. Das System ließ sich nur unter Mühen einstellen aber wir konnten mit etwas Sorgfalt und Herumexperimentieren viele verschiedene, teilweise ganz exzellent klingende Gitarrensounds herausholen. Diese zwei Gitarrenspuren, der Gesang und Freds Schlagzeug sind heute immer noch im ersten Teil des Stücks zu hören. Auch das Filter-Plugin von Fons Adriaensen, das eine der Gitarren besonders basslastig klingen lässt, ist seit 2007 in der Projektdatei, aus der ich die heute veröffentlichte Version exportiert habe. Manch einer wird vielleicht sagen, dass gerade diese Gitarre irgendwie elektronisch, kratzig klingt. Ganz recht, so soll sie auch klingen. Dass die Verstärkeremulation von Tim Götze durchaus auch ganz klassisch-realistisch klingen kann, kann man bei Interesse im Stück Ashita nachhören.

Ich habe irgendwann für mich erkannt, dass es “schlechten Sound” nicht gibt. Entweder ein Klang ist passend für ein Musikstück oder eben nicht. Der kratzende Plastik/Rasierapparat-Sound, der am Anfang von How weary I am zu hören ist, passt ganz genau zum Thema, er ist ästhetisch und inhaltlich genau richtig und ein sehr ähnlicher Gitarrensound ist übrigens auch kurz in David Bowies “Space Oddity” zu hören. Letzteres spricht eher gegen den Einsatz in einem neuen Stück aber auch Originalität kann zum Dogma werden also bleibt das jetzt so.

Freilich war das Stück damit noch längst nicht fertig. Ich fügte noch ein paar Leadgitarren hinzu und tat mein Bestes, um den Drumsound etwas brillianter und fetter wirken zu lassen. Dann gab ich einen Mix aus und machte ihn mit Jamin kompakter. Kompakt genug für ein Demo. Ich hatte für mein Linux Audio Proof of Concept Projekt schon einige andere Sachen aufgenommen und wollte auch Stücke auf jamendo.com haben. Dort lud ich neben Ashita und What Hath Befallen Me auch das Demo von How Weary I Am hoch und dabei blieb es erst einmal.

Ich hatte einige Stücke auf verschiedenen Webseiten. Die Resonanz hielt sich in Grenzen, war aber überwiegend interessant. Explizit für das Demo von How weary I am bekam ich keine Kommentare. Es befand sich aber auch nur auf jamendo. Ashita und auch Befallen verbreitete ich auch auf der Linux Audio User Liste und auf anderen Webportalen, wo die Stücke durchaus ausführlich diskutiert und auch weiter verbreitet wurden. Das Demo von How weary I am fand ich nicht überzeugend genug für eine weitere Verbreitung.

Von Zeit zu Zeit versuchte ich weiter, einen zweiten Teil für das Stück zu finden. Dabei kamen erst einmal ganze 20 Sekunden zustande. Der Teil, in dem Freds Schlagzeug durch ein in Seq24 programmiertes Drumpattern ersetzt wird und in dem ich mit Grabesstimme verkünde:

Und wenn ich Dir dann alles,
aber auch wirklich alles,
ganz genau erzählt habe…
Werde ich Dich fressen.

Dazu hat mich Walter Adlers Hörspiel zu “Otherland” von Tad Williams angeregt. Es ist eine umgekehrte Version einer Ansage, die Mullet in seinem ägyptischen Tefi-Sim macht. Er sagt zu Sam, die er gerade gefangen hat: “Und wenn Du uns dann alles aber auch wirklich alles, ganz genau erzählt hast, werde ich Dich fressen.” Das mag manchem nicht im landläufigen Sinne “schön” vorkommen aber es ist doch immerhin recht originell und mir hat die Intensität dieser kleinen Ansprache sehr gefallen. Allerdings fand ich es hübscher, aus Wissbegier Mitteilungsbedürfnis zu machen.

Dieses drollige Zwischenspiel reichte nicht ganz als zweiter Teil. Alles, was ich nun versuchte, ging von dem nur durch Umgreifen gespielten Gitarrenmotiv im Hintergrund der Ansage des Fressers aus. Das funktionierte nicht. Heute denke ich, dass man es durchaus hätte hinbekommen können. Aber irgendwie fehlte der Antrieb, die Vision. Die Bilder, die das absteigende Motiv heraufbeschwören konnte, wirkten entweder konstruiert-bürokratisch oder verschwommen; irgendwie virtuos aber richtungslos. Dafür brachte ich nicht genügend Disziplin auf.

Im Sommer 2009 las ich alle Bände von Frank Herberts Dune und sah einige Ausschnitte aus der Miniserie, die der ScFi-Channel zu Children of Dune gedreht hatte. Beides zusammen brachte mich auf die Idee, etwas wie ein Filmthema zu entwickeln. Ich stellte mir etwas vor, das ein bisschen wie der Einsatz des zweiten Teils von Ozzy Osbournes “No more tears” klingt. Bei genauerem Nachdenken kam ich darauf, dass in meiner Idee auch einiges aus dem Soundtrack von Sin City steckt. Ich hatte das, woraus die meisten meiner Stücke entstehen: eine ungenaue, abstrakte Vorstellung davon, wie das Stück wirken sollte. Und einen Namen: Tyrant Theme.

Ich kam irgendwann Anfang 2010 in meinen Arbeitsraum im DGZ-Gebäude und hatte die Vorstellung von einem sehr kräftigen Bassmotiv im Kopf. In einem neuen Qtractor-Projekt komponierte ich eine Weile daran herum, es bekam aber nicht den gewünschten Groove. Sowas lässt sich wohl auf einem richtigen E-Bass doch besser spielen als mit einem Sampler. Nur so zum Spass nahm ich aber das, was ich zustande gebracht hatte, auf eine Spur in Ardour auf. Weil ich nicht extra ein neues Projekt aufmachen wollte einfach auf eine neue Spur in meinem alten How Weary I Am Projekt. Dort fügte ich einfach einen passenden Geschwindigkeitswechsel nach der Fresser-Ansage ein und dann ließ ich das Motiv in Qtractor 5 mal durchlaufen.

Der Bassanteil in meinen Stücken kommt schon immer von tiefer gestimmten Gitarren und Drumsounds. Einen einigermaßen echt klingenden Bass zu haben, klang für mich recht interessant. Ich programmierte schnell noch einen passenden, schleppenden Schlagzeuggroove in Hydrogen und nahm auch diesen auf eine neue Spur auf. Für Gitarrensounds war ich zu diesem Zeitpunkt bereits auf Guitarix umgestiegen. Dessen damals neues gx_head Interface ist bis heute mein Leib-und Magen Verstärker. Damals hatte ich gerade einen längeren Artikel für das Linux Intern Magazin über Guitraix/gx_head geschrieben und kannte mich also ziemlich gut mit Brummers Emulator aus. Also fantasierte ich mit den von mir für gx_head gebauten Presets ein bisschen zu Bass und Drums des neuen Tyrant Theme — immer im Geist der Bilder, die Herberts Dune zusammen mit den Clips aus der Miniserie in mir hervorgerufen hatten.

Irgendwann war mir ein passendes Riff eingefallen und ich fing von vorn an. Auf drei Spuren nahm ich erst das Riff zwei mal und dann ein neues Gitarrenmotiv zum Riff auf. Alles innerhalb etwa einer Stunde und das meiste davon ist im fertigen Stück unverändert zu hören. Endlich hatte ich meinen zweiten Teil. Der schrie aber noch nach einer Steigerung und nach einem akzeptablen Schluss.

Im Frühjahr 2010 probierte ich verschiedene Möglichkeiten aus und kam schließlich zu einem ruhigen Interludium auf welches das Begleitmotiv vom Anfang des zweiten Teils sehr laut als Riff folgte. Ich nahm zuhause auf dem Laptop mit meiner Ibanz RG und im Studio auf der Workstation mit der tiefer gestimmten Jolana Diamant hunderte von Gitarrentakes auf. Gleichzeitig bastelte ich viele viele Stunden an den Drums.

Ein lebender Schlagzeuger kann solche Stücke besser, als man es ohne weiteres programmieren kann. Ich hatte viel zu tun, bis die Samples und Loops auf etwa 12 Spuren in Ardour einigermaßen ähnlich lebendig und überraschend wie ein echtes Schlagzeug wirkten. Gleichzeitig habe ich gern auch die besonderen Qualitäten, die mit programmierten Drums möglich sind. So habe ich wenigstens noch 10-12 längere Sessions innerhalb 3-4 Monaten für die Drums gebraucht. Dabei habe ich viele interessante Funktionen von Ardour für mich entdeckt und kennengelernt — seitdem weiß ich, warum man ein reines Audio-Programm wie Ardour zurecht auch einen “Audio-Sequencer” nennen kann.

Ich habe hunderte von Takes gelöscht und andere dafür aufgenommen. Manche Sachen gingen auch sehr schnell. So habe ich in etlichen Sessions bestimmt 2 Stunden Material mit Alsa Modular Synth eingespielt, von denen vielleicht 80 Sekunden im fertigen Stück übrig geblieben sind. Bei einem kurzen Test von Bristol habe ich in einer viertel Stunde etwa 30 Sekunden Material aufgenommen, die ebenfalls im fertigen Stück gelandet sind. Es ist die anschwellende, zwitschernde Synthesizerwolke nach dem Fresser und in der ruhigen Überleitung.

Anfang 2011 fragte ich Christoph Löffler, unseren Gitarristen aus Symposion of Sickness Zeiten, ob er nicht mitspielen wolle. Er brachte seine Ibanez mit und wir bauten einen Patch für Guitarix. Christoph ist bemerkenswert. Er kann nicht nur altmeisterlich in Öl malen, sondern auch praktisch aus dem Nichts unbeschreiblich orgelnde, virtuose Gitarrensolos spielen. Und dabei bekommt er grundsätzlich einen durchdringenden, geradezu anfassbaren Ton hin. Nach kurzem Einspielen, dessen Ergebnisse teilweise noch im Schlussteil enthalten sind, haben wir gemeinsam die kurze Walzerfanfare für die Überleitung gebaut.

Danach sollte es eigentlich in 3/4-Takt weitergehen, irgendwie hat dann aber doch das schon vorhandene langsame 4/4-Material sehr gut funktioniert und so läuft der letzte Teil von How Weary in einem teilweise walzerartig betonten 4/4 Takt.

Nach diesen Sessions war die Struktur des Stücks klar. Schon einige Monate vorher hatte ich durch einen Zufall einen nahezu gespenstisch guten Schluss gefunden. Da die neuen Aufnahmen aber zu diesem Zufall nicht recht passen wollten, verbrachte ich noch etliche weitere Stunden damit, das spontan entstande Motiv passend zum neuen Material noch einmal absichtlich nachzuspielen.

Die Idee des Tyrant Theme war längst in den 40 Spuren des zweiten Teils versunken. In den Windungen der inzwischen mehr als 1000 Regionen aus mehr als 500 aufgenommenen Dateien, in den labyrinthischen Gräben mehrerer sich überlagender virtueller Drumkits, in den vielen Stimmen nach Gehör gespielter Samples und Synthesizer und in den in 5 Jahren gewucherten, mit 4 verschiedenen Gitarren in dutzenden virtuellen Räumen auf verschiedensten Versionen veschiedener virtueller Gitarrenverstärkern gespielten Gitarrenlinien verlor ich die Orientierung und im Bewusstsein, dass ein akzeptables Ergebnis nicht mehr weit sein kann, habe ich die Arbeit an How Weary I am im Mai 2011 aufgegeben.

Ich hatte an wenigstens 100 Tagen an dem Stück gearbeitet, manchmal 6 Stunden, manchmal 10 Minuten, meist 1-2 Stunden. Auf jede im Projekt verarbeitete Minute Material kommen 5, die ich wieder gelöscht habe. Von einigen 5 Minuten langen Takes sind nur 3 Sekunden zu hören, andere Elemente(wie der Gesang am Anfang) sind erste Takes unverändert. Mit der Entwicklung des Stücks entwickelte sich auch die Audiosoftware für Linux. Ich habe für How weary I am alle in diesem Zeitraum erschienenen Versionen von Ardour2 benutzt und getestet. Alleine zu Ardour habe ich während dieser Zeit 4 größere Artikel für deutsche Linux-Magazine geschrieben. Auch viele Screenshots zu meinen Artikeln über Guitarix und Rakarrack, CAPS/C*-Plugins und zu LV2-Plugins von CALF und Invada stammen aus meinen Sessions zu How weary I am. Wenn ich Artikel zu Qtractor, Rosegarden oder Linux Distributionen wie Ubuntu Studio, 64Studio oder Suse/JAD geschrieben habe, lief immer wieder die How weary – Session in Ardour. Der Projektordner ist mit allem Drum und Dran auch über 3 Laptops und zwei Workstation-PC gewandert, bis er zum Schluss fest auf einer externen USB-Festplatte landete.

Ich habe einen wesentlichen Abschnitt meines Lebens mit diesem Musikstück verbracht. Zwei meiner Kinder sind in dieser Zeit geboren. Die Farbe meiner Haare wechselte von dunkelblond-meliert zu durchgehend grau/weiss und ihre Länge schwankte zwischen 30 Zentimetern 1996 und 2 Zentimetern 2005, mein Lebendgewicht stieg von 89 Kilogramm beim ersten Demo auf 108 beim ersten Versuch zum Tyrant Theme und war am Ende wieder auf erträglichen 91 angekommen. Ich habe viel, sehr viel erlebt in dieser Zeit und ich bin froh und dankbar, dass ich es erlebt habe.

Musik ist ein ungenauer Begriff oder besser: ein ungenau benutzter Begriff. Allgemein geklärt dürfte sein, dass Bachs Kunst der Fuge und die Symphonien von Mahler und Beethoven Musik sind. Bei Wagners Opern ist man sich schon nicht mehr gänzlich einig und bei den Werken von Miles Davis und Thelonius Monk sind die Geister endgültig geschieden. Fest steht aber eines: es ist müßig, einen der Genannten mit dem zu vergleichen, was ich in den letzten 15 Jahren hervorgebracht habe. Das eine wie das andere als “Musik” zu bezeichnen, scheint mir wenig sinnvoll.

Aber das, was ich mache, ist auch nicht nichts. Obwohl es mir nicht sehr leicht von der Hand geht, sehe ich zu, dass meine Stücke etwas zu sagen haben. Was ist es also? ich würde den Begriff “Dramatische Klangkunst” vorschlagen. Das klingt sicher abgehoben und geschraubt, scheint mir aber einigermaßen treffend. Irgendwie könnte man auch von Hörspielen mit sehr starkem Untergewicht des Wortanteils sprechen. Oder von akustischen Filmen. Oder von irgendetwas in dieser Richtung. Wenn auch nicht Musik, so doch aus musikalischen Formen gebaut.

Ende November 2011 gab ich den Arbeitsraum auf, in dem ich bis dahin auch an, nun ja, der Einfachheit halber: Musik gearbeitet hatte. Meine Workstation stellte ich in unser Wohnung auf und als alles an seinem Platz und verkabelt war, wollte ich es auch ausprobieren.

Ich hatte Ubuntu 11.10 mit der KXStudio-Erweiterungen von Falk TX auf den Rechner installiert und nun Ardour, die meisten Plugins und Guitarix aus den jeweiligen Entwickler Repositories gebaut. Brummer hatte gerade in Guitarix einige neue Ampmodelle und diverse Verbesserungen der Klangerzeugung eingebaut. Nach anfänglichen leichten Schwierigkeiten klang das ganz hervorragend. Ich war so aus dem Häuschen, dass ich gleich was damit aufnehmen wollte. Aus alter Gewohnheit lud ich die How weary /Tyrant Theme Session im aktuellen Ardour2. Es klang gut, nur etwas extremer, als es tatsächlich sein sollte. Des Rätsels Lösung: im frisch verkabelten System hatte ein Mikrofon Signal von einem Samson Kleinmembran-Kondensator einen Weg zum Eingang von Guitarix gefunden. Das hätte ich sehr schnell abstellen können aber was solls: wie klingt es eigentlich, wenn ich direkt in einen Patch singe, der “Total shred from hell” heißen soll? Selbst einfaches Einatmen klang schon wie der Angriff eines Kampfraumschiffs — wunderbar! Und was sollte ich “singen”? Da wir es schon hatten, ein paar weitere Zeilen aus Nietzsches “Zarathustra” würden wohl passen:

What good is my happiness,
it is poverty and pollution and wretched self-complacency
but my happiness should
justify existence itself

Da ich gerade einen Artikel zu Hydrogen geschrieben hatte, hatte ich auch einige neue, interessant klingende Drumparts zur Hand. Mit denen ersetzte ich die Drums aus dem ruhigen Zwischenteil, in den ich den Vierzeiler eingebaut hatte. Dazu ließ ich eine mehrstimmige Gitarrenmelodie heulen, die noch 1-2 Stunden Arbeit machte. How weary I am war wieder zu Leben erwacht. Ich nahm an prominenten Stellen weitere, meist extreme Gitarreneskapaden auf, schnitt vieles weg, das in irgendwelchen Unterspuren herumgebrummt hatte und nach den Aufräumarbeiten machte ich mich an einen akzeptablen Mix.

Es ging schnell, es ging wie von selbst, am 06. 12. 2011 exportierte ich How weary I am in der Fassung, wie sie jetzt veröffentlicht ist. Ich habe diesen Mix jetzt einige Male auf verschiedenen Geräten gehört. An einigen Stellen höre ich Möglichkeiten, das Stück noch extremer zu gestalten. Aber ich höre nichts, was ich so nicht stehen lassen möchte. Und vieles, was mich mit tiefer Genugtuung erfüllt: “Denen habe ich’s gezeigt! Iam the fucking greatest.” Wenn es mir Freude macht, ein Stück zu hören, gehe ich davon aus, dass es auch anderen anhörenswert erscheinen könnte. Obwohl man auch gute Dinge noch verbessern kann, soll es das jetzt sein.

Ich wünsche Euch allen, der ganzen Menschheit, angenehme 8 Minuten, 8 Sekunden und 8 Hundertstel Sekunden mit meiner Klanginstallation namens “How weary I am”.

Hartmut Noack
zettberlin@linuxuse.de
Berlin, 21. Dezember 2011

Verwendete Software
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Betriebsysteme:

64Studio Electric
OpenSuse 10.1 bis 11.3
Ubuntu Linux 6.4 bis 11.10

HD-Recorder(DAW):

Ardour 0.94 bis 2.8.12
Qtractor 0.4

Sequencer:

Seq24(Bass, Drums)
Hydrogen(Drums)

Standalone Klangerzeuger und Effekte:

CAPS/C*+AMS (AMSGuitrack)
Guitarix
Alsa Modular Synth
Bristol
Specimen Sampler

Plugins (LV2 und LADSPA):

SWH, CALF, Invada, IR

2 Comments »

  1. Hier noch mal mein Kommentar, den ich bereits in einem anderen Forum abgegeben habe:

    Endlich ein musikalisches Lebenszeichen! Und was für eins … 8 Minuten, die sich lohnen!

    Das, was du “Klanginstallation” nennst, ist für mich – obwohl ich nicht zur Zielgruppe gehöre – Musik in ihrer edelsten Form. Ein Stück mit Dramaturgie, jeder Ton durchdacht und wohl platziert. Musik, die eine Geschichte erzählt und diese spürbar macht. Wenn man deinen Text dazu gelesen hat, weiß man auch, dass es erlebte Geschichte ist, was das Stück noch eindrucksvoller macht.

    Ich liebe vor allem die Wandlungen im Song, vom schleppenden Rhythmus am Anfang zu den folkloristischen Sekunden am Ende und mit der Gitarrenhölle dazwischen. Und ich finde du solltest ruhig mehr singen (ohne Anführungszeichen!) …

    Die 100 Stunden Arbeit und Frickelei hört man nicht unbedingt raus, aber es ist toll, das jemand mal diesen kreativen (und technischen) Prozess dokumentiert hat. Und das, was du mit dem Song ausdrücken wolltest, kommt letztendlich auch beim Hörer genau so an – wenn das keine Kunst ist …

    Du selbst hast mit einem kleinen Satz perfekt beschrieben, was ich beim Hören dachte: “Ich erwache in einem Ton.” Danke für dieses Klangerlebnis, Respekt für deine Arbeit und fünf bewundernde Sterne als Kompliment!

    Comment by sommerklang — 22. December 2011 @ 15:50

  2. Vielen Dank!

    Das ist bis jetzt die positivste Reaktion. Ich habe für das Stück schon einige Kritik eingesteckt, das meiste fachlich/technisch begründet. Dass Du als Musikhörerin das Stück anscheinend doch genießen kannst, relativiert das ganze genau so, wie ich das gehofft hatte: Musikproduzenten hören, was sie anders gemacht hätten, Musikhörer hören, was sie hören. Das ist beides völlig in Ordnung aber letzteres ist mir im Endeffekt wichtiger 😉

    Comment by zettberlin — 23. December 2011 @ 09:32

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Fitting perfectly well into the colours of a meadow since the late Cretaceous. Some 130 million years of learning can do wonders, methinks...