13. March 2012

Gegen die Welt, gegen das Leben …

Filed under: Allgemein,Kunst,Musik — Tags: , , , , — zettberlin @ 22:25

…heißt der kurze Essay, den Michel Houellebecq Howard Philips Lovecraft gewidmet hat.

Ein alter Freund hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt und ich hatte ihn in der Innentasche meiner Jacke, als ich vor ein paar Tagen von einem Taxi angefahren wurde, während ich das WDR-Hörspiel “Die drei Stigmata des Palmer Eldritch” nach Philip K. Dick auf den Ohrhörern an meinem Smartphone hörte — bei einer Fahrradtour durch Schöneberg. Das Fahrrad habe ich gleich am Ort zurückgelassen, sein Hinterrad war zu verformt um mir an diesem Abend noch von Nutzen zu sein, immerhin bin ich noch auf eigenen Füßen nach Hause gegangen, Wolverine hatte mir geholfen, das Nummernschild des Benz wieder festzuklicken und Iron Man hatte das Fahrrad geborgen und mich mit milder Strenge gefragt, wo denn mein Helmet sei. Keiner der Beteiligten, auch Taxi-Hans nicht, wollte Behördenvertreter hinzuziehen und so verschwanden die netten Jungs in ihren Schaumstoffkostümen so schnell, wie sie gekommen waren, wieder aus meinem Leben und als einziger Vorteil blieb eine durch einen eher harmlosen aber schmerzhaften Rippenbruch verursachte Bewegungsunfähigkeit am Folgetag.

Damit hatte ich Zeit, das schmale Bändchen zu lesen. Auf dem Heimweg hatte ich erst SunnO)))und Boris , dann Das Ding auf der Schwelle gehört: Shubb Niggurath!! What the Ftaghn!.

Besonders in Erinnerung ist mir folgendes geblieben:

“Wer das Leben wirklich liebt, liest nicht, und geht schon gar nicht ins Kino.”

Houellebecq besteht darauf, dass man so wörtlich: “die Schnautze voll” haben muss, wenn man sich ernsthaft mit Literatur beschäftigen soll. Ich denke, dass er damit einen weit verbreiteten Fehler begeht: Er verwechselt eine Unzufriedenheit mit Kultur und Gesellschaft mit einem Abscheu vor dem Leben an sich. Das scheint unter französischen Intellektuellen Tradition zu haben. Als ich vor langer Zeit versuchte, Sartres “Ekel” zu lesen, kamen mir die selbstmitleidigen Tiraden seines Protagonisten unsagbar öde vor. Ich lebte damals in der DDR und verabscheute natürlich den Alltag und die Staatskultur des SED-Gebildes. Aber ich verstand es genauso natürlich, zwischen diesem unsäglichen Treiben und mir selbst einen sauberen Strich zu ziehen. Anathema! Warum sollte ich mich vor mir selber ekeln, solange ich nicht aktiv mitmachte? Ich war Rock ‘n Roll — das Regime war zwar nervig aber ich hatte nicht mehr mit ihm zu tun als mit dem öligen Wasser, das mir manchmal von den Ladas und Wartburgs aus den Pfützen am Strassenrand gegen meine löchrigen Westjeans gespritzt wurde. Ist es republikanisches Erbe, dass französische Schriftsteller glauben, alle Welt würde sich mit Staat und Gesellschaft identifizieren? Selbst, wenn sie den Gang der Dinge in ihrer großen Nation ganz und gar nicht gut finden, scheinen sie sich immer noch als integrierte Mitwirkende, ja mitgestaltende Bürger dieser Gesellschaft zu sehen. Als Ciceronen eines imaginären republikanischen Senats, der das Land, wo nicht die Welt! leitet und gestaltet und in dem sie nur eben gerade marginalisiert sind.

Steven King, der das Vorwort des Bändchens verfasst hat, hat einmal bemerkt, dass Horrorschriftsteller normalerweise Spießbürger seien. Nur, wer selbst einen aus Furcht genährten Abscheu gegen alles Fremde besitzt, kann das Grauen der Xenophobie in starke, glaubwürdige Bilder umsetzen, behauptet King. Das scheint mir schlüssig aber es ist nur eine Möglichkeit, sich dem dunklen Teil der Fantastik zu nähern. Er denkt wie auch Houellebecq nicht an die Kulturtechnik der Umkehrung. Dabei ist es offensichtlich: die meisten Fans von Lovecrafts Mythen erschrecken sich nicht mehr vor Cthulu oder YogSototh wie vor ihren eigenen Rottweilermischlingen oder den Gespenstschrecken in ihrem Terrarium.

Ist es Houellebecq tatsächlich nicht klar, dass die schleimigen Monstren Lovecrafts auch faszinierend sein können? In vielen Gegenkulturen spielen Umkehrungen von Tiersymbolik eine wichtige Rolle. Manch einer wird sich noch an die selten gewordenen Ratten erinnern, die in den 1990ern gerne von Punks in den Innentaschen ihrer Lederjacke gehalten wurden. Wenn einem der Verkünder von Pestilenz und Untergang niedlich schnuppernd auf der Schulter sitzt, kann man zumindest sicher sein, nicht mehr als etwas exzentrisch gekleideter Normalbürger verwechselt zu werden.

Und natürlich wären Tentakel noch viel cooler. Nur ist es bisher noch keinem gelungen, einen Kraken als Mütze zu tragen. Die knochenlosen Tiere sind mit ihren 9 (sic!) Gehirnen recht trickreich und eigensinnig und bevorzugen warmes Salzwasser so stark, dass sie allerlei Gegenmaßnahmen ergreifen würden. Unter anderem können sie mit ihren Papageienschnäbeln übel beißen und einige Arten sind dabei auch ziemlich giftig. Schade eigentlich aber gegen alles und jeden zu sein, heißt eben nicht, dass man potentiell tödliche Krakenbisse in Kauf nimmt, nur um cool auszusehen. Außerdem schädigt man Tiere nicht um der Selbstdarstellung willen. Wer selber frei und ungezwungen leben möchte, reißt einen Meeresmollusken nicht aus seinem Lebensraum, um ihn als Kopfputz zu tragen. Allerdings kann ich mir einen toten Kraken gut als modisches Accessoir vorstellen, leider sind Krakenkadaver aber nicht sehr leicht zu beschaffen und eine Packung Frutti del Mare auf dem Kopf auftauen zu lassen, sieht vielleicht wieder albern aus.
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Abgesehen von diesem seltsamen Fehlschluss ist der Aufsatz durchaus bemerkenswert. Houellebecq erweist sich als wissensreicher Kenner von Lovecrafts Leben und Werk. Und er kommt zu interessanten Schlussfolgerungen, die eigentlich auf der Hand liegen aber selten so deutlich ausgesprochen werden. So erklärt er lakonisch, dass jede Literatur eskapistisch ist. “Realistische” Literatur ist Unfug, weil sie nichts erzählt, was man nicht auch selbst erleben kann. Alles, was künstlerisch interessant und lesenswert ist, ist zumindest gefärbt von der privaten Innenwelt, der Fantasie eines Individuums. Es führt also dort hin und nicht in die allgemeine, objektive Wirklichkeit.

Egal ob es ein imaginiertes Ereignis wie etwa das Aufsteigen einer uralten Stadt ausserirdischer Mächte aus dem pazifischen Ozean oder ein realer Fahrradunfall mit einem Taxi ist: erst die Beschreibung macht es interessant und ob es tatsächlich genau so, wie beschrieben stattgefunden hat, ist allenfalls sekundär.

Wollen wir es versuchen?

Ich könnte bestimmt mein Taxierlebnis geschmückt mit Lovecraft-Motiven schildern. Interessanterweise habe ich ziemlich genaue Daten für den Vorfall. Wann, wo, um welche Uhrzeit… Nur, wie lange er gedauert hat, kann ich beim besten Willen nicht mehr genau sagen. Houellebecq hebt ein besonderes Stilmittel Lovecrafts hervor: seine Tendenz, besonders bizarre Dinge im Stil eines wissenschaftlichen Berichts zu schildern. In “Mountains of Madness” werden dauernd die genauen geografischen Daten der Handlungsorte durchgegeben, eines der Aliens wird seziert und sehr detailliert und sachlich beschrieben. Der Sinn dieser Übung ist natürlich nicht, den Leser über die Anatomie imaginärer Fremdlinge aufzuklären sondern das Gegenteil von Aufklärung: Lovecraft will fantastische Dinge glaubhaft erscheinen lassen. Das ist ein sehr anspruchsvolles künstlerisches Unterfangen denn er kann nicht an die Lebenswirklichkeit des Lesers anknüpfen. Wer die Beschreibung des Wesens mit dem Seesternkopf liest, wird allenfalls Bilder aus Alien-Filmen als Referenz aufsteigen sehen, nur in seltenenen Glücksfällen mögen auch Träume des Lesers zum Beschriebenen passen. Bei den meisten von uns gelingt der Trick aber dennoch. Wir glauben an diese Kreatur, sie scheint uns plausibel, weil die Beschreibung “streng wissenschaftlich” klingt und vielleicht auch, weil wir solche Kreaturen schon mal in Filmen gesehen haben.

Da habe ich es mit dem Taxi einfacher: jeder kennt ein Fahrrad, eine Kreuzung und ein Taxi und jeder glaubt zumindest, zu wissen, was geschieht, wenn auf der Kreuzung das eine mit dem anderen zusammenprallt. Aus eigener Erfahrung: ich weiss das nicht. Aber ich kann es natürlich trotzdem beschreiben:

Während verschiedene Leute in meinem Kopf aus mir nicht ganz verständlichen Gründen versuchen, Kontakt zu Palmer Eldritch aufzunehmen, radle ich über den ersten Abschnitt eines Fussgängerüberwegs. Die Ampel steht auf Grün, der zweite Abschnitt springt gerade auf Rot, ich fahre schnell weiter. Da kommt von rechts etwas angeschossen (ist “angeschossen” ein passender Begriff? Vorschläge sind willkommen). Das, was da auf die Kreuzung zukommt, repräsentiert den fließenden Verkehr, möglicherweise ist ein Bremsgeräusch zu hören, jedenfalls ein Aufprall. Die aerodynamische Front des PKW Mercedes Benz stößt gegen das Hinterrad meines Mountainbikes. Ich selbst werde mit dem Rad nach links in Richtung rechter Fahrbahnrand beschleunigt. An den Aufprall haben ich keine Erinnerung allerdings lässt sich sein Hergang relativ leicht interpolieren: im linken Teil meines Brustkorbs verspüre ich einen stechenden aber nicht unerträglichen Schmerz, ich werde also wohl auf diesen Teil meines Körpers gefallen sein, mein Kopf ist unversehrt und ich kann insgesamt keinerlei Verletzungen entdecken, also könnte es sein, dass ich mich am Fahrradlenker festgehalten habe, statt mich mit der Hand abzustützen. Möglich ist auch, dass ich den Sturz mit dem flach angewinkelten linken Oberarm abgefangen habe, wofür einige noch lange anhaltende Schmerzen sprechen würden, die sich nach einer Zerrung anfühlen. Um Herr der Situation zu bleiben, bin ich sofort aufgesprungen und stehe nun etwa einen Meter vor der Bordsteinkante auf der Fahrbahn, das Taxi etwas weiter zur Mitte zu hinter mir. In diesem Moment untersuche ich den Inhalt meiner Taschen und finde Geldbörse, Telefon und das kleine RoRoRo-Bändchen “Gegen die Welt, gegen das Leben” von Michelle Houellebecq — alle völlig unversehrt. Nur mein Nikotin-Verdampfer ist nicht an seinem Platz, ich finde ihn aber schnell und stelle fest, dass auch dieses Gerät keinen Schaden genommen hat.

Aus der Taxe steigen inzwischen Wolverine und der Fahrer, kurz darauf stelle ich fest, dass auch Iron Man ausgestiegen sein muss, denn er hat mein Fahrrad geborgen und fragt mich freundlich und etwas ermahnend nach einem Fahrradhelm. Ich kümmere mich aber erst einmal um den nicht wenig schockierten Fahrer und entschuldige mich wortreich für meine Unvorsichtigkeit. Der Fahrer wiederum besorgt sich um mein Wohlergehen, was mir sehr menschlich und tröstlich vorkommt. Ich mache mir ernsthaft Sorgen wegen des vor der Taxe herumliegenden Nummernschilds. Bei meinem etwas ungelenken Versuch, das Schild wieder anzubringen, unterstützt mich Wolverine, der dazu sogar seine Plastikkrallen ablegt.

Alles in allem sind bis hierhin etwa 2 Minuten vergangen und nachdem wir uns alle gegenseitig versichert haben, dass wir noch mal Glück gehabt hatten und ich besonders, verschwindet das Taxi mit den netten jungen Männern in den Schaumstoffkostümen wieder Richtung KitKat-Club oder wohin auch immer und ein sehr freundlicher Passant zeigt mir noch eine Stelle, an der ich den Kadaver meines Fahhrads anschließen kann.
Was bleibt ist eine gewisse Erschöpfung und Dankbarkeit für die Nachsicht und Hilfsbereitschaft meiner Mitmenschen — wenn es wirklich Stress gibt, sind die Berliner doch eher ein erfreulicher Menschenschlag.

Gut, ich gebe zu, das war nicht sehr Lovecraftesk aber immerhin nicht ganz ohne Unterhaltungswert oder? Und glaubwürdig? Als ob man dabei gewesen wäre vielleicht sogar? Nun, das ist sicher noch Steigerungsfähig, kehren wir noch mal zu der Stelle mit dem Aufprall zurück:

… Das, was da auf die Kreuzung zukommt, repräsentiert den fließenden Verkehr,…
Es wirkt wie ein wild rasendes Maschinenwesen, eine Verfolgungsjagd von robotischen Fahrzeugen. Als die Spitze der Maschinerie in mein Hinterrad einschlägt, verlangsamt sich alles, anscheinend auch der Schall, denn der Einschlag klingt dumpf, nicht wie das helle Krachen, das von einem Zusammenstoss von Stahl und Aluminiumdruckguss zu erwarten wäre. Mein Körper wird sehr heftig beschleunigt und um seine Achse gedreht. Ich wünschte, ich könnte dem Zusammenprall, der bereits geschehen ist, noch ausweichen, da beschleunigt sich der Ablauf des Geschehens plötzlich auf seine tatsächliche Geschwindigkeit und ich schlage wie beiläufig auf den Asphalt auf. Ich scheine ein ganzes Stück weit geflogen zu sein, glaube mich zu erinnern, dass die oberen Stockwerke der Häuser auf mich zukamen. In Anbetracht der Kräfte, die hier wirkten, erscheint der Aufschlag erstaunlich wenig wirksam. Im linken Teil meines Brustkorbs verspüre ich einen stechenden aber nicht unerträglichen…
etc etc siehe oben.

Und — besser?

Eine von beiden Versionen enthält ganz bewusst ausgedachte Dinge, beide beschreiben den Hergang auf gewisse Art angemessen, keine von beiden ist ein wissenschaftlich korrekter Bericht des Hergangs und natürlich kann keine von beiden das Ereignis tatsächlich vermitteln. Wer an der Realität wirklich interessiert ist, möge sich anfahren lassen, wem die Beschreibung gefallen hat, möge sich vielleicht beim Überqueren von zweiteiligen Fussgängerüberwegen daran erinnern in jedem Fall kann ich nur sagen: ich wünsche, gut unterhalten zu haben….


Das Video läuft in Firefox, Opera und Chrome…

2 Comments »

  1. vielen Dank vor allem für die modischen Auslassungen. Leider wird eine solche Denkerkappe wie Du sie tragen könntest, nie mit diesem erstaunlichen, durch tierische Emotionalität getriebenem Farb- und Formenspiel beindrucken. Es sei denn der Catwalk befände sich nach 100 Jahren und IPCC auf der Reeperbahn.
    Ahoi ruft und brassiges Entern wünscht Dir
    der Otto

    Comment by OCTOPOSER — 14. March 2012 @ 03:18

  2. > könntest nie mit diesem erstaunlichen, durch tierische Emotionalität getriebenem Farb- und Formenspiel beindrucken

    Wohl wahr: dead Kraken do not shimmer 😉

    Comment by zettberlin — 14. March 2012 @ 16:33

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Fitting perfectly well into the colours of a meadow since the late Cretaceous. Some 130 million years of learning can do wonders, methinks...