Man soll, wenn man über Filme schreibt, die gerade neu erschienen sind, am Anfang vor Spoilern warnen. Also: Alle, die den Film Avengers: Infinity War noch nicht gesehen haben, könnten in dem folgenden Text Dinge erfahren, die sie lieber erst im Kino herausgefunden hätten.
Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte das jetzt tun.
Jeder und jede, der oder die sich überhaupt für die Darstellung von Welt und Mensch im Film interessiert, sollte das tun. Und wer sich nicht für die Darstellung von Welt und Mensch im Film interessiert, sollte sich erst recht diesen Film anschauen; es könnte sein, dass dadurch das Interesse für die Darstellung von Mensch und Welt im Film geweckt wird.
Es ist übrigens auch egal, wenn Du den Film noch nicht gesehen hast und dennoch weiterliest: die Wirkung der dabei erworbenen Vorkenntnisse dürfte gering sein. Die schiere Einzigartigkeit und Meisterschaft des Films werden ihre Wirkung dadurch nicht verlieren.
Worum es geht
… um Chaos. Das Zerbrechen jeder Ordnung, das Scheitern aller Pläne, das Versagen von Glück und Fügung, das Ende der Macht.
Hunderte Generationen lang haben Menschen die Welt gestaltet. Mal planmäßig, dann wieder in Reaktion auf Zufälle, mal schöpferisch, dann zerstörerisch, sehr oft in Form nicht vorhergesehener Ergebnisse von gescheiterten Plänen. Aber immer mit einem Ergebnis, einem weiteren Schritt in eine neue Richtung. Nicht so in Infinity War. In dem Film scheitern Pläne nicht nur, sie brechen ab. Alles Beginnen ist zwecklos, es ist nur ein ohnmächtiges Ritual der Auflehnung gegen eine vollkommene Übermacht, die mit grenzenloser Entschlossenheit auf ein Ziel zustrebt, in dem Menschen keine kulturellen und politischen Subjekte, sondern lediglich generische Aspekte der Welt an sich sind.
Begrüßt nun Thanos: den ersten Superfeind, der die Welt nicht haben will
In vielen, besonders in den blöderen Kritiken zu Infinity War wird behauptet, dass die Avengers verhindern müssen, dass Thanos die Weltherrschaft an sich reißt, in den etwas besseren wird behauptet, Thanos wolle die Welt vernichten. Beides ist falsch, Thanos will die Welt nicht besitzen, weder als Herrscher, noch als Eigentümer und auch nicht als Zerstörer.
Thanos wird von der furchtbarsten Macht angetrieben, die einen Menschen überhaupt antreiben kann: er hat eine Aufgabe. Er sieht es als seine Pflicht an, alle belebten Welten zu erlösen und zu retten und zwar vom Fluch des Wachstums.
Im Film erzählt er, wie es dazu gekommen ist: seine Welt war überbevölkert und hatte ihre Ressourcen aufgebraucht. Einige wenige hatten zwar noch die Macht, sich soviel anzueignen, dass es für sie reichte, aber die meisten Thanos Leute vegetierten in Mangel und Elend.
Die Geschichte kommt bekannt vor, aber ich denke, das täuscht. Ein bloße Umweltverbrauchsmetapher wäre einige Nummern zu klein für einen Film, der so wie Infinity War wagt, Ideen zuende zu denken. Die Welt von Thanos war verbraucht, das Problem mit dem Mangel war nicht künstlich und damit politisch lösbar. Auch, wenn die wenigen Reichen alles verteilt hätten, wäre der Hunger geblieben und weiter schlimmer geworden. Thanos schlug vor, dass die Hälfte aller Bewohner seines Planeten sterben sollten, damit die anderen eine Chance haben, noch einmal neu anzufangen.
Der Vorschlag, den wir alle kennen, wurde abgelehnt und die Heimatwelt von Thanos zerstört. Sein Planet, auf dem der einzige echte Kampf zwischen ihm und den Avengers stattfindet, ist nicht nur ein öder Trümmerhaufen, sogar die Gravitation scheint irgendwie “beschädigt”. Spätestens seit der Club of Rome 1972 die Grenzen des Wachstums aufgezeigt hat, wird über Bevölkerungsreduzierung diskutiert. Ein Thema war das aber schon lange vorher und zwar vor allem im Gefolge der Entstehung großer, industrieller Ballungsräume. Thomas Robert Malthus hat bereits im Jahre 1798 ein Bevölkerungsprinzip aufgestellt, mit dem er vorgerechnet hat, wie die Nahrungsmittelproduktion unweigerlich vom Bevölkerungswachstum überholt wird. Als Lösung schlug Malthus vor, das Wachstum der Menschenzahl durch Geburtenkontrolle zu bremsen. Aber freilich dauerte es nicht lange, bis Malthus so interpretiert wurde, dass auch eine Beseitigung bereits geborener Fresser eine Lösung sein könnte.
Thanos sagt dazu:
Bevor ich gekommen bin, hast Du im Abfall nach Nahrung gewühlt, das war doch kein Leben. Heute ist Deine Welt ein Paradies.
Wahrscheinlich stimmt das, interessant ist, dass Thanos offensichtlich dieses Paradies, das er mit der Ausrottung der Hälfte seiner Bevölkerung geschaffen hat, nicht zu seinem Herrschaftsgebiet zählt. Wenn man es genau nimmt, besitzt und beherrscht Thanos nur sein obszön riesiges Raumschiff und seinen völlig ruinösen Heimatplaneten.
Hat irgend jemand schon mal einen Schurken einer Comicverfilmung gesehen, der nichts für sich nimmt? Nicht einmal Rache: sobald ihm ein Widersacher nicht mehr im Weg ist, lässt Thanos ihn zurück. Thanos kämpft, zerstört und foltert nur, um seine Aufgabe zu erfüllen, jede Eitelkeit, Triumph und Mordlust sind ihm fremd. Dass all seine Grausamkeit nicht Selbstzweck, sonder Notwendigkeit ist, wird besonders eindrucksvoll deutlich, als er den “Seelenstein” erwirbt: Gamora glaubt, er würde an dieser Prüfung scheitern müssen, weil sie ihn für ein gefühlloses Monster hält. Sie wird eines anderen belehrt und diese Episode alleine würde den Film schon zu einem herausragenden Juwel in einer Kiste bunter Plastikklunker machen.
Aber da ist noch so viel mehr, was man an Infinity War bewundern kann.
Was machen eigentlich diese Avengers?
Nichts, sie gehen unter. In Würde. Meistens.
Von Anfang an wächst die Macht von Thanos mit dem Einsammeln der Infinity Steine logarithmisch und schon in den ersten Minuten sind ihm Thor, Loki und der Hulk nicht gewachsen. Nur der unerschreckbare Pflichterfüller Heimdall kann noch eine Kleinigkeit gegen ihn ausrichten, bevor er umgebracht wird, die anderen rennen gegen eine Wand und Thor ist so vollständig überwunden, dass ihn Thanos unbeschädigt und sogar ungefesselt zurücklässt.
Anschließend wird das Nahen der Katastrophe bekannt und die 18 Hauptypen des Films dürfen mit ein paar kleinen Erfolgen gegen die Bediensteten von Thanos antreten. Sie agieren in drei Nebenhandlungssträngen des gespenstisch perfekt getakteten Drehbuchs, die Hauptgeschichte des Films gehört Thanos, wo er mit diesen Nebenhandlungen zusammentrifft, beendet er sie und überlässt den geschlagenen, zur Seite gefegten Superhelden nur noch Zeit für melancholische Epiloge, die im alptraumhaft intensiven Schluss des Films zusammenlaufen.
Wie war noch mal die Story?
Thanos gewinnt, Widerstand ist zwecklos.
Infinity War ist kein konventionelles Unterhaltungsdrama und auch kein Epos, der Film ist ein expressionistische Arrangement von archetypischen Konstellationen und methaphorischen Bildern und mythologischen Ritualen. Es hat mehr mit japanischem Butoh Theater(暗黒舞踏: „Tanz der Finsternis“) und altkatholischen und hellenischen Mysterienspielen zu tun als mit Shakespeare. Die durchweg erstklassigen Schauspieler stellen ihre Typen dar, einen Charakter hatten sie in den anderen Filmen schon. Das wird besonders eindrucksvoll von Captain America(der nur noch Steve Rogers genannt wird) und von Iron Man/Tony Stark zelebriert. Chris Evans spielt den Captain noch nachdenklicher, melancholischer als bisher, Tony Stark muss noch einmal ohne den Schutz seines Anzugs antreten und diesmal gegen einen Gegner, der den Hulk geschlagen hat. Thor und Rocket dürfen zwischendurch noch ein paar seltsame Späße machen. Das funktioniert sehr gut, weil diese Szenen bis zu dadaistischer Absurdität überdreht werden und weil Peter Dinklage auch eine absichtlich vollständig bescheuerte Figur so spielen kann, als wären wir immer noch in einem ganz normalen Hollywoodfilm.
Waren wir aber nicht. Wer Avengers Infinity War gesehen hat, ist eines filmkünstlerischen Experiments innegeworden, das man bis dato nur aus Enthusiastenproduktionen mit Minimalbudget erwarten durfte. Es ist, als hätte David Lynch “Eraserhead” mit 100 Millionen Budget und Stanley Kubrick als Assistenten gedreht.
Geht da hin.