14. September 2010

Gedränge auf der Sarrazin-Parade

Filed under: Freiheit,Politik — Tags: , , , , , — zettberlin @ 18:46

Zwei Medienereignisse sind vor einiger Zeit zu Ende gegangen: die Berichterstattung zum Duisburger “Love-Parade”-Desaster und die Diskussion der Thesen des Thilo Sarrazin(65, SPD). Was sollten diese beiden Veranstaltungen wohl mit einander zu tun haben? Das Medienecho beider scheint mir höchst oberflächlich und wenig aufschlussreich.

Sarrazins Gerede von den bildungsverweigernden Muselmännern, die das gute alte Punkt.de ins Mittelalter zurückzerren, wird inhaltlich meist recht kompetent auseinandergenommen. Nur hört man selten die Frage: “Warum tut der das?”. Vor einem Jahr hat er noch behauptet, die “Perser” seien ganz prima dabei in der Integration, nur die Türken und Araber wären ein Problem. Heute macht er einen muslimischen Gürtel vom Bosporus bis Indonesien aus. Und die Bewohner dieses Reichs des Bösen hätten eine “kulturelle Tendenz”, die fleißige, saubere Welt des Thilo Sarrazin mit Kopftuchmädchen und Gemüseläden zu überfluten. Gleichzeitig fallen ihm schon mal krude Thesen über die Gene von Juden und Basken aus dem Schnautzer — was denn nun? Haben die Muslime ein Gen, das sie der Bildung entfremdet oder werden die Juden durch ihre Gene davor bewahrt, stumpfsinnige Frömmler zu werden und was ist jetzt mit den Persern? Sarrazin hat Ende der 1960er Volkswirschaftslehre studiert und seither immer als Politiker und Angestellter im Finanzbereich gearbeitet. In der Zeit, in der er sein Buch verfasst hat, war er Bundesbank-Vorstand, vorher Finanzsenator in Berlin. Wann mag er sich denn die Kenntnisse angelesen haben, auf denen er seine Thesen gründen könnte?

Als Finanzsenator hatte er wahrscheinlich wirklich eine 60-Stunden Woche. Sein zur Zeit noch diskutiertes Opus Magnum hat immerhin 464 Seiten sarrazinscher Politprosa zu bieten. Nicht schlecht für einen Hobbyautor. Mal im Ernst: wer ein solches Buch innerhalb eines Jahres schreiben will, macht einen Vollzeitjob. So einen Vollzeitjob hatte der Autor aber bereits: es wäre denn, seine 230.000-Euro-Stelle bei der Bundesbank ist nur ein 20-Stunden Job.

Flaubert hat die 450 Seiten Salammbo in 4 Jahren geschrieben. Alan Wiseman hat immerhin noch 2 Jahre für The World Without Us(290 Seiten) gebraucht. Ich schreibe schon mal 5 druckfähige Seiten am Tag — allerdings nur, wenn ich auch wirklich den ganzen Tag schreibe und recherchiere. Man darf also davon ausgehen, dass Sarrazin sein Buch eher nebenbei und ohne allzu tiefschürfende Recherchen heruntergetippt hat. Erkenntnisgewinn durch wissenschaftliche Arbeit war wohl kaum das Ziel seiner Arbeit an “Deutschland schafft sich ab”.

Liest man Interviews mit Sarrazin, tritt einem ein grantiger, kantiger, manchmal sogar jungenhafter Herr entgegen. Da wird in souverainem Plauderton zack! zack! ausgeteilt. Im Originalton klingt der “große Provokateur” allerdings ganz anders. Da starrt der Redefluss vor Füllseln, die in den gedruckten Interviews von der Redaktion entfernt werden. Besonders das Wörtchen “also” hat es Sarrazin angetan: die Beamten-Version des volkssprachlichen “und so” taucht wenigstens 10 mal pro Minute auf. Nachzuhören ist das zum Beispiel im Deutschlandfunk: {lhttp://www.dradio.de/aod/?station=1&broadcast=220597&datum=20100829&playtime=1283072733&fileid=404bd06f&sendung=220597&beitrag=1259519&|Interview der Woche vom 29. 08. 2010l}.

Was könnte einen Menschen, der dermaßen verdruckst daherschwafelt, dazu bewegen, sich mit seinen Meinungen in die Öffentlichkeit zu begeben? Einige unterstellen ihm Geldgier. Na gut, das wird er nicht unbedingt nötig haben. Interessanter ist da schon die erstaunlich selten diskutierte Hypothese von der Geltungssucht. Fast 40 Jahre lang hat Thilo funktioniert. Er hat im Apparat der so genannten SPD ganz bewusst Karriere gemacht. Als einer, der das Handwerkszeug der Wirtschaftsverwaltung der Bundesrepublik nicht nur erlernt, sondern zutiefst verinnerlicht hat. Als Finanzsenator von Berlin konnte er erklären, warum ein Kulturhaus, das scheinbar nicht mehr als 5000 E im Jahr für Strom und Hausmeisterei benötigt, eben doch 45.000 E im Jahr kostet. Schließlich muss man mitrechnen, was so ein Gebäude rein theoretisch einbringen [e könnte e]. Thilo Sarrazin weiß sowas und die armseeligen, unwissenden Kulturhanseln, die ernsthaft glauben, es gäbe sowas wie Ressourcen außerhalb des von T. Sarrazin erlernten Wirtschaftslebens, brauchen gar nicht erst versuchen, an den unumstößlichen Fakten herumzudiskutieren.

Ich behaupte: Thilo Sarrazin ist ein elendes Würstchen, das sein Leben vertan hat und auf die alten Tage noch etwas “richtiges” sagen und tun will.

Das kann er aber nicht, weil er zu lange das Funktionieren nach Vorgabe geübt hat. Auf seinem eigenen Gebiet — der Wirtschafts- und Finanzpolitik — fehlt ihm die Brillianz und vor allem der Abstand zur geübten, schlimmen Praxis. Er ist beim besten Willen kein Paul Krugman und selbst für einen Milton Friedman-Jünger wäre er zu blass. Was soll er also tun? Der Sensenmann oder doch wenigstens der Herr Altzheimer wird nicht mehr lange auf sich warten lassen und Thilo hat nichts hinterlassen. Bestenfalls hat er am Laufen gehalten oder mit durchgeführt, was andere erfunden oder aufgebaut haben. Sein einziges Buch vor seinem aktuellen Deutschland!!schinken ist ein schmales Bändchen über die Einführung des EURO.

Was kann man da machen? Man kann zum Beispiel unverlangte Forschungsprojekte auflegen. Wie etwa dieses: Schicke eine unterbezahlte Mitarbeiterin mit dem HartzIV-Budget in den Billigmarkt zum Einkaufen. Schau Dir an, ob der mitgebrachte Kram ausreichen könnte, einen durchzufüttern, der nicht so gut funktioniert wie Thilo. Das ganze sehr sarrazinische Ergebnis lanciert man dann auf Standardwegen in die Öffentlichkeit und schon wird man von Journalisten gefragt, ob man den ganzen Quatsch nicht im Interview näher erklären möchte.

“Na also! Man hört mir zu!” Endlich verstehen die Menschen, dass Thilo Sarrazin ganz wichtige Beiträge zum Gedeihen der Menschheit, d.i.: des Abendlandes, beizutragen in der Lage und auch willens ist.

Einmal vom dünnen Blut der deutschen Medienaufmersamkeit geleckt, streifen die Gedanken des Titanen umher nach neuen, noch wichtigeren Problemstellungen. Reizthemen, die alle interessieren, Stichwörter, die keiner überhört. Und es darf gern eine Nummer größer sein. Wie zum Beispiel das ewig simmernde Armageddon Christenthum/Abendland vs. Islam/Knoblauch mit Gemüse am Kopftuch.

Man könnte jetzt leicht nachweisen, dass das ganze Gerede ohne wissenschaftlich haltbare Begründungen auskommt. Man könnte sich über die irrationalen Hypothesen von “muslimischer Bildungsferne” und jüdischer “Intelligenzgene” erregen und man könnte natürlich die ganze so genannte “Argumentation” des Sarrazin leicht in Grund und Boden analysieren. Aber das will ich nicht. Dafür habe ich keine Zeit. Ich danke den Journalisten und Wissenschaftlern, die sich in der ganzen Debatte dazu herabgelassen haben, Thesen zu widerlegen, die von vornherein nicht der Diskussion wert gewesen sind. Als erklärter “Sozialdemokrat” könnte er wissen, dass Verhalten vor allem durch reale Lebensumstände bestimmt wird. Religiöse Konzepte können der Reaktion auf die Lebenswirklichkeit eine Tendenz geben aber sie können keine reales Tun und Trachten aus dem Nichts hervorbringen. Erstaunlich, wie irrational einer argumentiert, der sein ganzes Leben lang jeden Einfluss von Kultur auf das wirkliche Leben geleugnet hat.

Der Genosse Sarrazin ist ein …

Er ist nicht satisfaktionsfähig. Da er es besser wissen könnte und trotzdem nicht (mit Verlaub) das Maul hält, ist er nichts als ein Täuscher. Einer, dem inzwischen jedes Mittel recht ist, um der Öffentlichkeit seine faule Ware anzudrehen. Kurz: ein sehr durchschnittlicher Politiker am Ende einer nicht sehr steilen Karriere.

Fast könnte er einem leid tun. Werden wir Erwachsenen nicht alle von Zeit zu Zeit vom Gedanken an das, was von uns bleibt, geängstigt? Ist nicht die Zeit die Bestie, die uns allen im Nacken sitzt? Wünschen wir uns nicht alle, dass uns möglichst viele unserer Artgenossen zuhören? Aber Anteil an der Ewigkeit gibt es eben nicht geschenkt. Wer nach seinem Platz im Gedächtnis aller strebt, sollte dabei auf seine Würde achten. Sonst steht er (oder sie) sehr schnell als Kuriosität der Saison auf dem Podest der Medienöffentlichkeit. Als Hanswurst, von stumpfsinnigen Schenkelklopfern bejubelt und von tragischen Gutwollern, die man in die Irre geführt hat. Und die sich alsbald mit besonders ätzendem Ekel abwenden. Wie war das noch mal bei Ronald Schill — dem “Richter Gnadenlos” von Hamburg? Ist er nicht, wirres Zeug von südamerikanischen Stränden faselnd, als peinliche Lachfigur im wohlverdientem Nichts entschwunden? Die SPD wird sich (so weit es bei ihr geht) beeilen, Sarrazin los zu werden. Sie sollte bei der Gelegenheit darüber nachdenken, wie es einer wie Sarrazin in der SPD so weit bringen konnte. Aber auch die Grünen haben sich nicht öffentlich gefragt, wie ein Oswald Metzger in der Partei von Joseph Beuys und Petra Kelly Karriere machen konnte. So wird von dem ganzen Wirbel nicht viel bleiben.

Nein! Thilo Sarrazin hat kein Mitgefühl verdient. Mit seinen Fähigkeiten als Bürokratieroboter hat er sich seine volle Bundesbank-Rente erfeilscht und so hat er Muße für den Rest seines Lebens. Zeit, darüber nachzudenken, ob man wirklich der Unsterblichkeit näher kommt, wenn man auf Schwächeren herumtrampelt.

Lopavent: grau ist das neue blau

A propos herumtrampeln: was die Sozialdemokratie mit Gerhard Schröder, Franz Müntefering und ihren Sarrazinen innerhalb von 20 Jahren geschafft hat, ist der lustigen, putzigen Loveparade innerhalb nur 10 Jahren gelungen: die Verwandlung eines von bewusst mitdenkenden Beteiligten getragenen Kulturphänomens in ein handelbares, von ein paar Nutznießern kontrolliertes Produkt für austauschbare Kunden zu werden.

Was mir am Loveparadedesaster besonders auffällt, ist die Kälte einerseits und die Blindheit gegen das Offensichtliche andererseits, die die Medienreaktion bestimmen.

Die Beschreibungen des elenden Sterbens am 24. 07. wirken seltsam ratlos-distanziert. Was soll man auch dazu sagen, wenn sich fast eine Million “Party”-Schafe auf einen Platz treiben lassen, der nach Meinung der Feuerwehr gerade Platz für 400 Tausend bietet? Wenn sie dann vorn kurz stehen bleiben und die Nachrückenden nicht und dazwischen eben ein paar Dutzend zermalmt werden? Die Metapher vom Viehauftrieb kommt immer wieder in Augenzeugenberichten vor. Von Schafen hat man öfter gehört. Ein Anrufer bei Radio Fritz sagte gar, er habe sich wie ein Schwein gefülht, das zum Schlachthof getrieben wird. Dabei sind sie alle freiwillig gekommen. Vielleicht mit hoher Motivation? Die Show kann es nicht gewesen sein — in jedem Mittelklasseclub kann man das besser und intensiver erleben. Besserer Sound, Lichtshow, Service etc. Nein, die Loveparade zieht nicht an: sie ist ein Ereignis, zu dem man sich getrieben fühlt. Man will dazu gehören, man will sehen und spüren, dass man einer oder eine von vielen Hunderttausend ist. Hunderttausende, die irgenwie um die Runden kommen, jedenfalls dazu gehören, vielleicht sogar hip und erfolgreich sind. Ganz positive Leute, viel Peace und gute Vibes, genau das Richtige für Leute, die nach vorn schauen, sportlich und tolerant und leistungsbereit pragmatisch. Da gehört man gerne dazu, da [e muss e] man dazu gehören. Was ist, wenn man nicht weiter kommt? Wenn man die Wagen schon hört, aber nicht sehen kann, wenn man noch nicht in der Parade ganz offiziell mit marschiert? Dann wird es Zeit, dann muss man weiter.

So, wie Thilo Sarrazin: wenn es Zeit wird, im großen Wettkampf aller gegen alle nicht unter zu gehen, ist jedes Mittel recht. Man muss sich schließlich durchsetzen. Was sollen da ungeschriebene Gesetze, die keiner kontrolliert? So, wie Thilo Sarrazin nicht zuhört, wenn ihm die Reste seines Akademiker-Ethos raten, sich besser zurückzuhalten, hören die Massen bei den angesagten Events nicht zu, wenn ihnen die Vernunft rät, erst mal ganz locker stehen zu bleiben. Zeit verschwenden? Gelegenheiten verpassen? Andere vorlassen und selbst zurück bleiben? Wieso denn?

Die Opfer des Desasters tun mir leid. Sie wurden nicht durch eigene Niedertracht in die ausweglose Situation im Tunnel getrieben. Sie sind wahrhaft Opfer. Und in den Untergang getrieben wurden sie nicht einmal durch Bosheit und Niedertracht, sondern durch Stumpfsinn. Der gleiche Stumpfsinn, der das Denken all jener eingefleischten, zynischen Quasipragmatiker bestimmt, die aus der Sozialdemokratie eine Haufen von Lakaien der Wirtschaftsbosse gemacht haben. Aus der Loveparade hatten solche Leute eine groteske Werbeshow gemacht, bei der es nur noch um Zahlen ging.

Das hatte eine Weile sehr gut funktioniert, jetzt nicht mehr. Die Stadtverwaltung Duisburg hat einige Tage nach der Katastrophe begonnen, Briefe an Eltern der zertretenen, erstickten Opfer zu verschicken. Die verantwortlichen Hinterbliebenen mögen sich doch endlich bequemen, die Leichen ihrer Kinder ordnungsgemäß zu überführen, die Stadt Duisburg sei nicht für diese Entsorgungsfragen zuständig. Natürlich hat die Überführung zu den üblichen Preisen zu erfolgen. Die nötigen Mittel sollte ja wohl ein guter, Sarrazin-fleißiger Bundesbürger immer zur Hand haben:
{lhttp://www.derwesten.de/staedte/duisburg/Keine-Hilfe-bei-Ueberfuehrung-von-Loveparade-Toten-id3667810.html |derwesten.de l}.

Lopavent hatte mit der Veranstaltung mehrere Millionen verdient. Duisburg hatte mit der Veranstaltung mehrere Millionen verdient. Aber es gibt keine gesetzliche Regelung, nach der man als Nutznießer im Katastrophenfall alles bezahlen muss. Nur, wenn eine Schuld juristisch wasserdicht bewiesen ist, muss man in die Brieftasche fassen. Wenn nicht, ist das Pech für die Betroffenen. Die sollten dann auch gute Verlierer und überhaupt vernünftige Leute sein. Oder?

Ein paar der Leute, auf denen Sarrazin herumtrampelt, sind überhaupt keine guten Verlierer. So richtig vernüftig wollen die auch nicht mehr sein, teilweise haben sie in der Tat eine ernsthafte Macke. Sollte man da nicht dafür sorgen, dass irgendwann das Trampeln aufhört?

endbild
Fitting perfectly well into the colours of a meadow since the late Cretaceous. Some 130 million years of learning can do wonders, methinks...