4. October 2011

Nachtrag: Warum Piraten?

Filed under: Freiheit,Piraten,Politik — Tags: , , , — zettberlin @ 19:05

Vor zwei Wochen hatte ich erstaunt konstatiert, dass ich beileibe nicht der einzige Piratenwähler hier in Weissensee bin. Nun habe ich versucht, etwas ausführlicher herauszufinden, warum die Leute hier ihr Kreuzlein bei der angeblichen Ein-Thema-Protestpartei gemacht haben.

Zunächst mal: Leute, die gerne viel ohne überflüssige Kosten herunterladen, habe ich nicht gefragt. Ich kenne nur wenige Menschen, auf die das Klischeebild der Mainstreammedien vom Piratenfreund einigermaßen zutrifft. Es mag durchaus sein, dass eine ganze Reihe meiner Bekannten und Freunde auch den kostenlosen Film aus dem Internetz zu schätzen weiß. Manch einer saugt bestimmt regelmäßig am Esel und freut sich diebisch über jeden neuen wackelig im Kino abgefilmten Blockbuster. Aber ich kann mich gerade nicht daran erinnern, dass mir jemals irgendwer gestanden hätte, dass solche Möglichkeiten zu den unverzichtbaren Bestandteilen seiner/ihrer Lebensführung gehören würden.

Niemand wählt eine Partei, weil sie für kostenlose Downloads eintritt. Das klassische Thema der Netzfreiheit taucht in meinen Gesprächen mit Piratenwählenden nur auf eine Art auf, die manche Medienfachkraft überraschen dürfte: Die Leute sehen das radikale Einstehen für Freiheit im Netz als Zeichen für ganz bestimmte, sehr abstrakte, politische Werte bei den Piraten. Einer Partei, die so radikal für Freiheit und Bürgerrechte im Internet auftritt, wird eine insgesamt stärkere Orientierung an Freiheit und Bürgerrechten zugetraut. Und zwar auch von Leuten, die an den Netzthemen kein großes Interesse haben. Ich denke, das liegt daran, dass sich die Piraten beim Kampf für ihre klassischen Ziele immer wieder mit Mächten anlegen, die von den meisten Menschen guten Willens als Unterdrücker und Blutsauger betrachtet werden. Die Großkombinate der Medienindustrie: Sony, Microsoft, Universal etc.. Und natürlich deren noch viel fieseren Verbände. Die Leute, die schwachsinnige “Raubkopierer sind Verbrecher”-Spots vor die Hauptfilme der bereits gekauften oder doch zumindest für Geld gemieteten DVD stellen. Und zwar so, dass man sie nicht skippen kann.

Ob es beim Streit um Abmahnungen oder Netzsperren nach 3-Strikes-Modell geht, ist nicht ganz so wichtig. Es geht darum, wer sich mit wem streitet. Die Mainstreammedien berichten gern über bizarre Vorfälle. Wenn eine alleinerziehende Mutter für ein paar dutzend Downloads ihres 10jährigen Sohns ein paar Hunderttausend Dollar an irgendein Großkombinat der Medienindustrie zahlen soll, ist das bizarr genug für eine Meldung unter “Vermischtes”. Vielleicht auch für einen ganzen Artikel auf der Medienseite mit einem Minimum an Hintergrund.

Das wer gegen wen ist hier wohl eindeutig. Wer in einem derartigen Fall von “gerechter Strafe” et al redet, hätte wahrscheinlich auch noch 1985 die Losungen der SED zum Geburtstag der DDR nachgeplappert. Nun ist es aber so, dass alle etablierten Parteien zu solchen Fällen entweder aus Desinteresse oder Unkenntnis eher schweigen. Und wenn sie gefragt werden, werden sie entweder allgemeines Gerede oder verklausulierte Zustimmung zur Gerechtigkeit der Medienkonzerne absondern. Das sieht bei den Piraten anders aus. Und nachdem sie in aller Öffentlichkeit in solchen Fällen mit aller Deutlichkeit ihre Säbel gezückt und in die richtige Richtung geschwungen haben, ist klar, dass sie zu den guten Jungs gehören. Die meisten Menschen erkennen Unrecht, wenn es offensichtlich zu Tage tritt. Ein halbes Jahreseinkommen pro heruntergeladenem Song für eine Bande von gierigen Millionären, vertreten durch Anwalts-Wiesel und die Bürokratie eines Großkombinats, zu zahlen von einer alleinerziehenden Mutter für die Unbedarftheit eines 10-jährigen: das ist Unrecht. Dass dieses Unrecht strukturelle Gründe hat und dass die Bürokraten und Wiesel nicht anders können, weil sie ein bestenfalls unvollkommenes, man könnte auch sagen faules System zu stützen haben, spielt da erst mal keine Rolle. Das System ist abstrakt, die Mutter des Downloaders ist konkret, also gibt es für die Millionäre, ihre Bürokraten und Wiesel nur ein Urteil: ad Bestias!

Ich traue den Piraten zu, dass sie es sich nicht ganz so einfach machen. Da ist genug politische und juristische Kompetenz für eine Analyse der Situation, die über einen harmlosen Wunsch nach beschwichtigender Kulanz hinausgeht. Die Piraten können durchaus Konzepte entwickeln, welche die strukturellen Ursachen solchen Unrechts beseitigen. Und solche Konzepte würden weit über den Schutz von Netzbürgern vor exemplarischen Bestrafungen wegen trivialer Regelbrüche hinausgehen. Der Bruch von Regeln, die mächtige Kartelle zu ihrem eigenen Vorteil aufgestellt haben, ist in vielen Lebensbereichen alltäglich. Und wenn die Piraten die Regeln der Rechteverwertung ändern möchten, dann könnten sie vielleicht auch andere Regelwerke änderungswürdig finden.

Wie wäre es zum Beispiel mit dem HartzIV-Regelwerk? Gibt es da Unrecht? Bestimmt! Bizarre Extremfälle? Hunderte! und außerdem: Können normale Durchschnittsbürger direkt von all dem betroffen sein? Na klar können sie — genau genommen ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vom HartzIV-System direkt betroffen. All die, die nicht auf Zahlungen vom Jobcenter angewiesen sind, bekommen Löhne und arbeiten unter Bedingungen, die durch HartzIV erst durchsetzbar werden. Die Technokraten unter den Urhebern des Hartzsystems geben gerne unumwunden zu, dass Hartz vor allem ein Schreckensszenario aufbauen soll. Erwerbslosigkeit soll so erniedrigend und ruinös sein, dass möglichst alle lieber unter hanebüchenen Bedingungen arbeiten gehen, als sich ihren Anteil des Bruttosozialprodukts direkt beim Staat zu holen.

Und? Was haben die Piraten dazu zu sagen? Es war für die meisten Leute, die ich hier in Weissensee kenne, genau ein Plakat, mit dem die Piraten sich die Kreuzchen auf der Liste geholt haben: Mindestlohn ist eine Brückentechnologie.

Von diesem Punkt an konnte allen klar sein, das sich die guten Jungs auch um Dinge kümmern wollen, die Alle jeden Tag angehen. Und sie hatten auch gleich durchblicken lassen, dass das ganze Vollbeschäftigung zum Mindestlohn-Gerede aus den Sonntagsreden der Anderen im 21ten Jahrhundert nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann.

Freilich müssen viele Wählerstimmen, die einer neuen, akzeptablen Kraft zuneigen, von alten, früher akzeptierten Kräften erst einmal freigesetzt werden. Abgesehen von den vielen Erstwählerstimmen, die naturgemäß den coolen und vorzeigbaren Filibustern zuflogen, haben die meisten P-Wähler die Hausnummer gewechselt. Ich will jetzt nicht viel von der SPD reden, das ist Geschichte. Wer denen noch seine Stimme gibt, gibt sie allenfalls Leuten wie Wowereit oder Thierse, die dem oder derjenigen dann irgendwie akzeptabel erscheinen. Und ich will nicht verhehlen, dass ich ebenfalls denke, dass Berlin schon deutlich schlimmere Bürgermeister als Wowereit hatte. Aber alle die ich kenne, haben von der Linken und einige wenige von den Grünen zur Piratenpartei gewechselt. Auch über die Grünen will ich nicht viel sagen: sie sind desavouiert, Grün ist das neue Gelb. Kühnast und ihre Team haben sich noch ein paar Stimmen bei den elenden Losern von der FDP geholt und die gehalten, die schon früher gemerkt hatten, dass neoreaktionärer Kapitalismus in Biofarbe viel milder mundet als im ranzig gewordenen Senfgelb der 1990er. Und vielleicht noch ein paar, die noch immer hoffen, dass die Partei von Ströbele und Kelly irgendwann doch noch mal zurückkehrt.

Interessant ist der Verlust der Linken. Warum haben all die Leute, die doch in erster Linie wegen sozialer Fragen wählen, nicht mehr die gewählt, die sich die sozialen Fragen am größten auf die Fahnen schreiben?

Sicherlich haben schon immer auch liberal denkende Menschen die Linke bevorzugt, weil soziale Gerechtigkeit eben die ökonomische Grundlage jeder liberalen Kultur darstellt. Und viele Gesichter der Linken konnten überzeugend freiheitliche Gesinnungen verkörpern. Da gab es all die Sozialrevolutionäre und Radikalen aus der Hausbesetzerkultur, von Anarcho-Punk bis Gender-Emanzipatorischen: alles dabei, was gut und richtig ist. Wer die Linke aus Sympathie für diesen Flügel gewählt hatte, war diesmal vielleicht wirklich von den hirnlosen Mauerapologien und vielleicht auch der Castro-Grußadresse abgestoßen. Aber die Abwendung der Liberalen erklärt in meinem Bekanntenkreis allenfalls 1-2 von inzwischen 20 Piratenwählern.

Das größte Problem der Linken ist ihr großer politischer Erfolg in den letzten 8 Jahren. Fast ein ganzes Jahrzehnt waren die Linken mit am Ruder und was haben sie erreicht? Wer sie gewählt hatte, hoffte auf bezahlbare Mieten und auskömmliches Einkommen. Nun sind die Mieten in Berlin allerdings auf Höhenflug während die Einkommen eher absacken. Möglicherweise wäre das ohne die Linken noch schlimmer aber irgendwie schaffen es die Linken-Politiker nicht, diese Vermutung in der öffentliche Meinung zu erwecken. Ganz real haben die Linken sich große Mühe gegeben, das noch Mögliche aus den gegebenen Verhältnissen herauszuholen. Aber sie konnten es nicht glaubhaft machen, dass sie an der schieren Abschaffung dieser Verhältnisse arbeiten.

Exemplarisch ist Harald Wolf. Was für ein bedauerlicher Langweiler! Ich habe ihn bei der so genannten “Wahlkampfrede” am 16.09. auf dem Antonplatz, hier in Weissensee gesehen. Das Publikum sah aus, als hätte es ein Team von Focus-TV gecastet: die Klischees von altgedienten SED-Getreuen und verkrampft mit der Pionierorganisation Ernst Thälmann kokettierenden jüngeren Genossen hätten erfahrene Laiendarsteller unter fachgerechter Anleitung durch Guido Knopp nicht abgeschmackter bedienen können. Und Wolf stand hinter seinem Mikrofon als würde er vor einem Parlamentsausschuss einen Rechenschaftsbericht zum Papierverbrauch in seinem Büro abgeben. Es mag ja sein, dass Herr Wolf ein erfahrener, kompetenter und intelligenter Politiker ist. Ganz sicher ist er sehr routiniert — zu routiniert. Wer gegen die Großen und Mächtigen zu Felde will, muss die Leute aufhetzen. Wolf hat seine Höhrer aber eher eingeschläfert. Endlos zählte er die kleinen Verbesserungen auf, die die Linke im eingeschränkten Rahmen der berliner Politik einbringen konnte. So habe man es durchgesetzt (oder wolle es jedenfalls bald ganz durchsetzen), dass städtische Aufträge und Subventionen nur noch an Firmen gehen sollten, die einen Mindestlohn zahlen. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Dass es Landesregierungen gibt, die das nicht so sehen, spielt keine Rolle: man vergleicht sich nicht mit den üblen im Wettbewerb. Der Beifall der Komparsen fiel auch dementsprechend müde aus.

Die Linke bietet keinen auch nur fernen Ausblick auf eine Utopie, die über die halbherzige Verbesserung des Bestehenden hinausweist. Genau das ist bei den Piraten anders.

Die Piraten sind tatsächlich eine Kraft, von der man sich neue Politik versprechen darf.

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