21. March 2022

Was David Engels vom Ukraine Krieg hält und was ich davon halte

Filed under: Allgemein,Politik — zettberlin @ 12:01

https://twitter.com/DavidEngels12/status/1502268630188412929/photo/1

Nun nun, Herr Engels, Ihre Einleitung ist zweifellos ein respektables Stück konservativer Bildung und es wäre gut, wenn solche Überlegungen mehr diskutiert würden.

Ihre Schlussfolgerungen enthalten allerdings ein Wunschdenken, das in unschönem Kontrast zu Ihren Überlegungen zur aktuellen Situation steht.
Ja, ich fürchte, Sie haben recht: falls wirklich jemand geglaubt haben sollte, dass das “segensreiche Wirken der europäischen Gemeinschaften und ihrer Werte” 75 Jahre Frieden in Europa gestiftet hätten, so ist das in der Tat eine Illusion.

Und das kostspielige Armeen und Militärbündnisse auch ganz praktisch notwendig sein könnten, sollte immer allen klar gewesen sein.
Selbst die leidenschaftlichsten Hippie Pazifisten wollten das Militär allerdings auch immer auf globaler Ebene loswerden. Auch, wenn sie verlangt haben, dass NATO und Bundeswehr verschwinden müsste, meinten sie, dass wir, der Westen damit anfangen sollten, das Kriegshandwerk aufzugeben und dass die anderen dann schon folgen würden….
Die Autorität, der Sie zuschreiben, dass sie den Krieg mit Waffengewalt unterbinden könne, war die Bombe. Spätestens, als 1961 am 30. Oktober über Novaja Semlja die AN602 detonierte, die im Westen “Zar Bombe” genannt wurde und die einen Radius von 40 Kilometern in einen Krater verwandtelte, war klar, dass der Krieg ausgedient hatte.

Nachbildung der AN601 (Wikipedia)
(Nachbildung der AN602 Wasserstoffbombe, https://de.wikipedia.org/wiki/AN602#/media/Datei:Tsar_Bomba_Revised.jpg)

Das Wesen des Kriegs war immer die Option, bis zum Äußersten zu gehen und das Äußerste war ab 1961 die völlige Vernichtung beider Parteien ohne wenn und aber. Jede kriegerische Handlung war ab da nur noch ein Plänkeln, eine symbolische Handlung, die auch dann nach Kräften “kalt” gehalten wurde, wenn wie früher Soldaten in fremde Länder einrückten.
Der wirkliche All Out Krieg, bei dem auch die Grenzen der UdSSR oder der USA oder auch nur ihrer direkten Verbündeten überschritten wurden, war keine Option und fand nicht statt.
Das ist bis heute so, die Ukraine ist kein direkter Verbündeter, allenfalls ein Amicus. Und wer heute im Westen den Cato spielen möchte, darf das natürlich, wird aber noch weniger gehört werden als der alte Kriegshetzer wider Karthago.

Der Grund dafür ist weder die westliche Demokratie mit ihren segensreichen Werten noch die vielbewunderte Spiritualität der Russen: es ist die Tatsache, dass schnelle Kernfusion in sehr kleinen, schnell weit transportablen Geräten extrem viel Energie freisetzen kann und dass alle drei großen und zwei kleinere Blöcke diese Technik beherrschen und tatsächlich einsetzen könnten.
Oswald Spengler hat Kulturen vor allem Potential zugeschrieben. Er wollte nicht, dass Japaner in Deutschland “unsere” Ingenieurkünste studieren, weil er fürchtete, dass die japanische Kultur das Potential habe, sie einzusetzen. Es geht letztlich darum, was eine Kultur ganz praktisch und handfest zustande bekommt.

Sie schlussfolgern, dass Universalismus und Beliebigkeit in Sachen moralischer Leitlinien uns, den Westen, geschwächt hätten, ja, an den Rand der Selbstauflösung geführt hätten.
Lassen Sie mich auch eine steile These aufstellen: der Westen ist keine Nation, sondern ein Imperium, wie auch Russland oder China und für Imperien ist kulturelle Identität und deren moralische Leitlinien Folklore. Was zählt, ist ein verlässliches Rechtssystem, zu dem auch Absprachen, Bündnisse und Verträge gehören und eine Klarheit der Frage, wer wie welche vereinbarten Leistungen tatsächlich erbringen kann. Und diese Klarheit darf nicht zur Diskussion stehen. Alles andere kann gerne auch relativ sein: wie man daran sieht, dass Polen und Ungarn immer noch zur EU und die protofaschistische Erdogan Türkei immerhin noch zur NATO gehört.
Sie erklären, dass die tatsächlich notwendige verteidigungspolitische Reform mit einer “identitären Kehrtwende” einhergehen müsse. Ich möchte das nicht ganz verwerfen, sehe es aber konkret natürlich ganz anders als Sie.

Was ist denn “unsere Identität” als westliches Imperium?

Ob Männer Frauen die Hand geben, man gern Bier trinkt, die Kinder katholisch firmen lässt oder zu Feiertagen eine liberale Synagoge aufsucht, ist es sicher nicht und auch ein irgendwie “zusammenpassender” Kanon solcher Dinge ist, wie Sie vielleicht selbst zugeben werden, eher Quatsch. Allenfalls könnte man eine Liste von Tabus aufstellen, wie etwa der Todesstrafe oder der Folter… dann müsste man allerdings die USA ausschließen und das passt gerade auch nicht so gut.
Meiner Ansicht nach ist unsere Identität die Aufklärung. Physik über Metaphysik, Materie über Geist, Beobachtung über Vorstellung.

Das bildet ein Fundament, auf dem erst einmal deutlich sichtbar ist, dass alles, was über den simplen Pragmatismus der optimalen Anpassung an die Tatsachen hinausgeht, aus Wünschen und Wollen erwächst.
Es gibt keine übergeordnete Autorität, die uns verbietet, zu morden und zu foltern: wir *wollen* es einfach nicht. Es gefällt uns nicht und der alte Kant reicht uns aus, um unser Sittengesetz zu begründen.

DAS ist der Westen. DAS hat uns stark und unermesslich reich gemacht. DAS hat unsere Lebenserwartung in 200 Jahren um 50 Jahre gesteigert, DAS hat Hunger zu einem Skandal gemacht, der tatsächlich fast nirgends im Westen mehr vorkommt.

Ich sehe im Kampf Russlands gegen den Westen vor allem einen Kampf des Idealismus gegen diese pragmatische Basis, auf der verschieden starke Wünsche nach dem Gusto privater Individuen wuchern können. Der Westen kennt keine Ideale, er überlässt es der Bevölkerung, welche zu haben, hängt sich aber allenfalls zu Propagandazwecken und meist in Sonntagsreden und folgenlosen Apellen an diese Volkstümlichkeiten. Der Westen hat mithin auch keine Werte. Was der Westen hat, sind Normen.
Die liberale Demokratie ist ein System positiver Normen und Regeln. Alles, was nicht von diesen erfasst wird, ist dem freien Spiel der soziokulturellen Kräfte überlassen:

“Sie haben also Ideale? Schön schön, wählen Sie doch einen Politiker, der Ihnen verspricht, sie hochzuhalten.”

Das funktioniert, weil man darauf hoffen darf, dass die so gewählten Machthaber diese Werte zumindest nicht mit Füßen treten, sondern hegen und pflegen, soweit das die Physik und die Normen und überhaupt die Realitäten erlauben.
Wir sehen es heute: Tausende begeisterte Idealisten westlicher Werte wollen eine Flugverbotszone über der Ukraine.

“Schießt sie ab, die russichen Satane in ihre Suchois die gegen unsere F16 eh keine Chance haben!”

Wie herrlich ist es doch, das Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei… Die Profis, die den Laden leiten, verweisen allerdings auf die Kernphysik und die Normen, die solch edler Moral im Wege herumstehen…. Wir haben außerdem das Glück, eine Außenministerin zu haben, die einerseits glaubwürdig Verständnis für idealistische Forderungen zeigen, andererseits aber auch solide Realpolitik machen kann.

Und diese Tatsachen stehen eben auch über jeder Art von Autonomie, sei es nationale oder persönliche. Ganz im Sinne des Liberalismus wird nicht dirigiert, aber an bestimmten Punkten eine Grenze gesetzt, die zu überwinden keiner Souverainität gestattet wird.

Territorien, in denen die Einhaltung von Normen gewährleistet ist, bieten Freiraum für kulturelle Identitäten, die lebendig gepflegt und entwickelt werden, unter einer Herrschaft des Rechts, vor dem alle gleich sind.

Insofern wären auch Vorstellungen von einer “Leitkultur” ohne weiteres zugelassen. Dieselben haben aber immer eine Tendenz zur Herausforderung des Rechtsguts der Gleichheit vor dem Gesetz und des politischen Grundsatzes der aus der kulturellen Neutralität des Staats folgenden Toleranz an sich.
Das macht sie eher zu Quellen der Unruhe, das muss nicht ganz schlecht sein, zu fördern ist es aber auch nicht und annehmen darf das eine Zivilisation, die auf Normen setzt, gar nicht.

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Fitting perfectly well into the colours of a meadow since the late Cretaceous. Some 130 million years of learning can do wonders, methinks...