26. August 2022

Winnetou, Jules Verne, Kindheitserinnerungen und andere Anachronismen

Filed under: Kunst,Literatur,Politik — zettberlin @ 13:50

Nein, Karl May ist nicht wichtig. Er ist kein bedeutender Schriftsteller, sondern nur ein interessantes Popkulturphänomen. Der Reichtum, den er sich zusammengeschrieben hat, ist ihm zu gönnen aber kultische Verehrung hat er nie verdient.

Lasst uns mit Michel Houellebecq beginnen..

Jede belletristische Literatur ist escapistisch. Es gibt keine realistische Belletristik, keine realistische Erzählung.

Aber Emile Zola und Lew Tolstoi und Heinz Strunk erst: die sind doch realistisch oder?

Nein, keiner davon ist Realist. Sie spielen das Reale wie eine Gitarre: die Saiten müssen korrekt gestimmt sein, aber das Lied, das sie spielen, ist nicht das Instrument, sondern Metapher, Drama, kurz: Fantasy.

Wenn Heinz Strunk von einem Instrumentenverkäufer bei Thomann erzählt, geht es nicht um die Verhältnisse im stationären Handel mit Musikinstrumenten, sondern um das Drama des Menschen, der enttäuscht vom Leben und selbst daran schuld ist.

In 200 Jahren wird es vielleicht keinen großen stationären Handel mit global produzierten Musikinstrumenten mehr geben und auch keine Verkäufer, die eigentlich Musiker werden wollten und sich später damit begnügen, richtigen Musikern und welchen, die sich noch dafür halten, Gitarren aus Korea zu verkaufen. Aber es wird wohl noch immer Menschen geben, die sich mit 16 vorgestellt haben, wer und was sie sein wollten und die mit 36 feststellen, dass sie das nie sein werden.

Aber was ist nun mit Karl May?

Wenn wir akzeptieren, dass Literatur ein Spiel mit Motiven ist, können wir bewerten, wie gespielt wird. Und dabei kommt es auch darauf an, wie Autoren mit Motiven umgehen, was sie über diese Motive wissen, sprich: wie sie ihr Instrument zu stimmen und zu spielen wissen.

Ravi Shankar hat zu George Harrison gesagt:

Sitar spielen zu lernen, um “Norwegian Wood” damit zu spielen, ist wie Chinesisch zu lernen um Limmericks damit zu schreiben.

Karl May hat viel viel mehr als nur einen unschuldigen, nicht ganz ernst gemeinten Song aus der Geschichte der nordamerikanischen Ureinwohner und ihrem Zusammentreffen mit der europäischen Zivilisation gewonnen. Er hat eine ganze Welt daraus konstruiert und das war sein Produkt, das er vermarktet und verkauft hat. Und er hat sein Instrument nie so gut spielen gelernt, wie George Harrison die Sitar.

Keine Anspielung, keine Adaption, nicht einmal eine vergleichsweise harmlose Aneignung: eine Fantasy Welt, in der er, Karl May, die Hauptfigur war und das hat er verkauft. Und warum nicht? Literatur ist escapistisch, Karl May bot den perfekten Escape:

Heraus aus der drögen Enge der bürgerlichen wie der proletarischen Welt des 19. Jahrhunderts. Heraus aus unerträglich langen Arbeitsschichten und Konventionen und dem immer gleichen Umfeld, in dem es nur darum ging, zu funktionieren.

Hinein in die “endlose Weite der Prairie”, die mystischen blauen Berge, in die Konfrontation der eigenen urwüchsigen Gestaltungskraft mit der wilden, unvorhersehbaren Kraft unverbrauchter Naturburschen, die nichts besseres zu tun haben würden, als die kernige Natur des Deutschen bewundern zu lernen. Kein Wunder, dass Adolf Hitler diese Geschichten ungemein entspannend und tröstlich fand, wo er doch mit der Komplexität einer 2000 Jahre gewachsenen Zivilisation konfrontiert war, die nichts für ihn übrig hatte, weil ihm für deren Mitgestaltung das Verständnis und die Bildung fehlten.

Darstellung von Sioux im Karl May Museum Radebeul

In dieser Fantasiewelt entwickelte Karl May die Vorstellungen, die bis heute mit dem Namen “Winnetou” verbunden sind. Nichts davon ist real. Es sind Collagen von Bruchstücken, ausgewählt vom Autor nach Gusto und wo nötig, zurechtgebogen. So wird es als Erzählung konsistent. Und auch die Details: Sam Hawkins, das Halbblut, Winnetou, passen zusammen und so kann eine geneigte Leserschaft die von May konstruierte Welt akzeptieren und lieben.

Auch die Welten der Fremen von Arrakis, der Klingonen aus Star Trek und der Menschen, Majar und Elben aus dem Herrn der Ringe sind konsistent. Aber diese haben alle eins gemeinsam: jeder und jede, die sich dieser Literatur nähert, weiß sofort, dass all dies ausgedacht ist.

Während die Welt von Karl May namentliche Bezüge zur Wirklichkeit hat, und der Autor hat Zeit seines Lebens darauf bestanden, dass das alles real und selbst erlebt sei. Natürlich ist das Ausbeutung. Und zwar in einer besonders üblen Form: der Ausbeuter übernimmt nicht nur die lebende Substanz, er nimmt sich heraus, alle ihre Eigenschaften zu definieren. Das muss er auch. Denn einem Vergleich mit der Wirklichkeit der Apachen des 19. Jhd. hält keine der Erzählungen Mays stand.

Die Wirklichkeit ist mithin einer der Feinde Mays und seiner Leserinnen und Leser. Sobald darüber geredet wird, wer und was die Apachen wirklich waren und wie es ihnen wirklich ergangen ist, stehen die Erzählungen Mays als sehr peinlicher Unfug da.

Die Wirklichkeit war oft der Feind von Deutschen. Die Romantiker verabscheuten die schnöde, handfeste Welt der Fakten, Tatsachen und der Logik in elaborierter Weise: sie wandten ihr bewusst und voller moralischer Leidenschaft den Rücken zu um den Blick in eine reine, klare, schöne Welt ihrer Vorstellung zu richten.

Aber hat der fiese Houllebecq nicht auch den Escapismus gepredigt? Ja: er erklärt in seinem allerersten Buch sehr überzeugend, dass Literatur Welten schafft und nicht sie abbildet. Das Buch heißt “Gegen die Welt, gegen das Leben” es ist ein Essay über das Werk von H.P. Lovecraft.

Das Problem der Romantik ist nicht Fantasy, sondern die Weigerung, die Wirklichkeit im Fantastischen zu reflektieren. Romantiker konstruieren Welten, in denen ihre moralischen Vorstellungen herrschen und ihre Gefühle die größten Mächte sind. Lovecraft konstruierte Welten, in denen von ihm als real vorgeschlagene externe Mächte herrschen und Gefühle auslösen, die nicht er sich wünscht, sondern die folgerichtig aus dem Wesen der konstruierten Mächte, also den Verhältnissen erwachsen: Furcht und Verzweiflung.

Gute Autoren erdenken Konstellationen und Thesen, die sich aus den Konstellationen plausibel ergeben. Und sie respektieren das Wesen des Materials, mit dem sie konstruieren. Tolstoi hat “Krieg und Frieden” aus dem Wesen der russischen Oberschicht zur Zeit der Napoleonischen Kriege konstruiert. Sein Pierre Besuchow hat nie gelebt, aber Menschen wie er haben gelebt in Verhältnissen, wie sie Tolstoi beschreibt. Und Tolstoi wählt aus: er beschreibt nicht alles, sondern nur das, was er für seine Erzählung benötigt. Aber was er beschreibt, ist plausibel und aus sich heraus konsistent ohne, dass der Autor es zurechtbiegen muss.

Karl May hat gebogen bis es knackt und geleimt und geflickt, wenn es für seine Thesen nötig war, sein an sich schon fantastisches Konstrukt noch weiter zu verformen, bis der der Zielgruppe so angenehme Gleichklang von moralischer Überlegenheit mit kernig deutscher Superheldenkraft hergestellt war.

Habe ich ihn überhaupt gelesen?

Nein. Ich kenne die Filme, die dem Vernehmen nach werkgetreu sind und habe sie mit einigem Vergnügen gesehen aber freilich nie ernst genommen. Ansonsten habe ich etwa mit 16 einen zerfledderten Band eines Winnetouromans in die Hand bekommen und etwa 100 Seiten darin gelesen. Es war gut und flüssig geschrieben aber ich fand es langweilig. Und es hatte einen anachronistischen Sound, den man besonders mit 16 nicht besonders schätzt.

Die Jungsliteratur hatte ich zu dieser Zeit schon durch. Mit Rudyard Kiplings Jungelbüchern und vor allem mit Jules Verne. May begegnete mir zu einer Zeit, in der ich langsam zu Kafka und Tschechow überging und das ist ihm nicht bekommen.

Jules Verne hatte mich freilich begeistert. Obwohl er nicht sooo anders als May war. Aber mit 12 sind Metabedenken hinsichtlich Plausibilität und Glaubwürdigkeit nicht so wichtig. Ich erinnere mich allerdings an eine Szene aus “20000 Meilen unter dem Meer”, die mich schon damals befremdet hat:

»Warten Sie nur, Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo. »Wir werden Ihnen eine Jagd zum besten geben, von der Sie noch keinen Begriff haben. Kein Mitleid mit diesem wilden Getier. Sie bestehen
ja nur aus Maul und Zähnen!«
Maul und Zähne! Jawohl. Denn obwohl der Pottfisch mitunter 25 Meter groß ist, so nimmt sein enormer Kopf doch etwa den dritten Teil seines Körpers ein.

(Zwanzigtausend Meilen unter’m Meer, A.Hartsleben Verlag)

Erst mal, “Pottfische“: eine der ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Kinder heutzutage erwerben ist, dass Wale keine Fische sind. Das fand ich an sich schon befremdlich und dann der sinnlose Hass auf den Pottwal, der mit seinem Riesenmaul vor allem kleine Fische und nur gelegentlich einen großen Tiefseekalmar jagt und jedenfalls für andere Wale völlig harmlos ist. Selbstverständlich hatte ich auch mit 12 schon begriffen, dass Tiere, die andere Tiere jagen und fressen, deswegen keine “Schädlinge” sind und es barer Unfug ist, sie moralisch beurteilen zu wollen.

Fand ich Jules Verne dann doof? Nein, ich las weiter mit Begeisterung aber wie vorher auch ohne unkritische Verehrung. Letzteres empfand ich gelegentlich auch, vor allem für Kipling, diesen alten Imperialisten. Mir war in den Jungelbüchern nichts aufgefallen, was mein Missfallen erregt hätte, im Gegenteil fand ich es großartig, wie Kipling das Wesen und Verhalten der Tiere beschrieb. Jagen, Töten, Fressen war Teil der natürlichen Ordnung, Shere Khan war fies wegen seines Hungers nach Macht und seiner sinnlosen Grausamkeit, nicht wegen seines Hungers auf Hirsche.

Also fand ich Jules Verne nicht ganz so überzeugend wie Kipling aber durchaus immer noch lesenswert.

War also Karl May irgendwie nur zu spät zu mir gekommen, um ein warmes Plätzchen in meinem Jungenherzen zu finden? Nicht ganz, sein Plätzchen hätte er wohl gefunden aber es wäre nicht einmal so warm wie das von Jules Verne gewesen. Auch Verne war ein Kind seiner Zeit und er schrieb, wie May, kommerziell massenhaft für die gleiche Zielgruppe. Aber seine Helden sind deutlich sympathischer und zuweilen sogar vielschichtigere Charaktere als die platten Typen von May mit dem Kitschindianer und seinem deutschen Superheldenkumpel an der Spitze.

Und was bei Verne ganz fehlt ist die dümmliche Weltverachtung, die Mays romantischem Kitsch innewohnt. Was bei Verne Irrtum ist, ist bei May willentliche Verzerrung und Leugnung von Tatsachen.

Was machen wir jetzt damit?

Nichts. Soweit mir bekannt, enthalten Mays Schriften keine offene Hetze, die man nicht im Bücherregal haben will und auch in Bibliotheken nur wohlkommentiert für Fachleute. Es ist harmloser Kitsch, der durchaus auch von einer humanistischen Haltung geprägt ist und auch wenn es literarisch korrupt und paternalistisch ist, so wollte May doch wirklich eine freundliche Haltung zu den indigenen Amerikanern propagieren. Wir wollen nicht vergessen, dass besonders die amerikanische kommerzielle Literatur des 19. Jhd. und später auch der Film die Indigenen fast durchgängig als grausame Wilde darstellte, gegen die Custers Kavallerie einen heldenhaften Kampf führen musste.
Diese offen rassistische Popkultur wurde in Europa und besonders in Deutschland nie populär und meist nicht einmal übersetzt und verbreitet. Und das ist durchaus auch ein Verdienst von Karl May, der mit seinen Büchern eine grundsätzlich positive Sicht auf die Indigenen Amerikas etabliert hatte.

Breiten wir also den Mantel gnädigen Schweigens und wir sollten auch das alberne Geschwätz der Neurechten und sonstigen Spießbürger über das angebliche “canceln” von Winnetou tunlichst ignorieren.

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Fitting perfectly well into the colours of a meadow since the late Cretaceous. Some 130 million years of learning can do wonders, methinks...